Der EZB-Tower in Frankfurt/Main.

EZB-Sitzung Wie Experten den Zinsschritt bewerten

Stand: 27.10.2022 17:58 Uhr

Mit einer weiteren kräftigen Zinserhöhung bekämpft die EZB die Rekord-Inflation im Euroraum. Ökonomen bewerten, ob der XXL-Zinsschritt angemessen war, tatsächlich die hohen Preise dämpft und wie es weitergehen könnte.

Von Till Bücker, ARD-Finanzredaktion

Um die Rekord-Inflation in der Eurozone in den Griff zu bekommen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins erneut um 75 Basispunkte auf 2,0 Prozent angehoben. Zu dem Satz können sich Geschäftsbanken frisches Kapital bei der Notenbank leihen. Auch der an den Finanzmärkten maßgebliche Einlagensatz, zu dem die Institute ihr Geld bei der EZB parken, steigt in der gleichen Größenordnung auf 1,50 Prozent.

Trotz des dritten Straffungsschritts nacheinander werden die Währungshüter auf Zinserhöhungskurs bleiben. Die Arbeit sei noch nicht erledigt und es gelte, eine weitere Wegstrecke zurückzulegen, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde heute auf der Pressekonferenz. Es sei mehr "in der Pipeline". Womöglich müsse man auf mehreren Ratssitzungen an der Zinsschraube drehen. Doch wie bewerten Ökonomen die zweite XXL-Zinserhöhung in Folge?

Zinsschritt "angemessen" und "richtig"

"Ich denke, der EZB blieb aufgrund des aktuellen Inflationsniveaus kaum eine Alternative", meint Christina Bannier, Professorin für Banking & Finance an der Justus-Liebig-Universität Gießen, gegenüber tagesschau.de. Angetrieben von den steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen infolge des Ukraine-Kriegs war die Inflationsrate im September in der Eurozone auf 9,9 Prozent geklettert. So hoch war die Teuerung seit Gründung der Währungsunion noch nie.

"Ein Zinsschritt in Höhe von 0,75 Prozentpunkten erscheint mir derzeit angemessen", sagt deshalb auch Jan Pieter Krahnen, Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung (SAFE) in Frankfurt. Ähnlich sieht es Emanuel Mönch, Professor für Geldpolitik und Finanzmärkte an der Frankfurter School of Finance & Management: "Die Inflation ist unverändert hoch, und es gibt Anzeichen für Zweitrundeneffekte." Es sei bereits zu sehen, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber deutlich höhere Lohnabschlüsse vereinbaren und die Mieten steigen, was zu einem weiteren Preisanstieg beitrage. "In dieser Situation kann eine Zentralbank nicht anders, als so zügig wie möglich gegensteuern."

Für den ehemaligen Wirtschaftsweisen Volker Wieland war es ebenfalls die "richtige Entscheidung", so hätte die Anhebung seiner Ansicht nach mit einem Prozentpunkt auch ruhig noch höher ausfallen können. "Der für den Geldmarkt relevante Einlagezinssatz liegt nun bei 1,5 Prozent. Das reicht natürlich noch nicht, es werden weitere Zinsschritte folgen müssen", sagt der Professor für Monetäre Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt im Gespräch mit tagesschau.de. Die Märkte würden zu Beginn des neuen Jahres drei Prozent erwarten. Ob das Niveau dann ausreiche, um die Inflation wieder auf zwei Prozent zu drücken, bleibe abzuwarten.

Ist die Geldpolitik machtlos?

Nach der reinen Lehre machen Leitzinserhöhungen Sparen attraktiver und Kredite teurer, was zu weniger Konsum und Investitionen führt. Dadurch sinken die Preise. Einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) zufolge ist die Geldpolitik allerdings aktuell "gegen einen großen Teil der aktuellen Inflation machtlos".

Demnach werde der für die Berechnung der Teuerungsrate herangezogene Warenkorb zu mehr als der Hälfte (51,9 Prozent) aus eher von der Angebotsseite beeinflussten Gütern bestimmt. Deren Preissteigerungen seien auf gestiegene Energie- und Rohstoffkosten und unterbrochene Lieferketten zurückzuführen, heißt es vom IW. Die Geldpolitik wirke dagegen vor allem auf die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.

"Ich halte es für falsch zu behaupten, die EZB sei machtlos", hält Wieland dagegen. Tatsächlich habe sie erheblichen Einfluss auf die Inflation. Letztendlich sei die Teuerung ein monetäres Problem, bei dem es egal sei, welche Schocks dazu führen. "Ob langfristig Inflation besteht, ist eine Frage der Geldpolitik", so der Experte. Denn sie sei nichts anderes als der Kaufkraftverlust der Währung, dessen Angebot die EZB nun einmal kontrolliere. "Mit den Zinsen hat die Notenbank einen starken Hebel, wodurch sie die Inflationserwartungen beeinflussen kann."

EZB will Inflationserwartungen lenken

Auch diese spielen bei der Teuerungsrate eine Rolle. So besteht die Gefahr, dass die Marktteilnehmer die hohen Preise als neue Normalität wahrnehmen. Die Währungshüter wollen unbedingt vermeiden, dass sich die Inflation in den Köpfen der Menschen festsetzt. Das Kalkül: Wenn die Inflationserwartungen aus dem Ruder laufen, wird es für die EZB noch schwieriger, die Teuerung wieder einzudämmen und in Richtung ihrer Zielmarke zu bewegen.

Außerdem sei Inflation nie nur angebotsseitig bestimmt, ergänzt Mönch von der Frankfurt School of Finance & Management. "Preise schnellen vor allem dann in die Höhe, wenn ein geringes Angebot auf eine hohe Nachfrage trifft." Durch höhere Zinsen die Nachfrage zu reduzieren, habe daher mittelfristig auch eine dämpfende Wirkung auf die Inflation.

Neben der möglicherweise fehlenden Wirkungskraft befürchten einige Beobachter auch die Verschlechterung der Konjunktur als Folge der straffen Geldpolitik. Denn höhere Zinsen verteuern die Kredite für Haushalte, Unternehmen und den Staat und machen Spareinlagen attraktiver - wodurch der Konsum in der Regel sinkt. Schon jetzt befand sich etwa die Verbraucherstimmung in Deutschland mehrere Monate lang auf einem historischen Tiefpunkt.

Rezession für Experten kein Grund für Zinserhöhungsstopp

"Die steigende Inflation geht jetzt mit einer plötzlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Wachstumsaussichten einher", warnte jüngst sogar der Chef der italienischen Notenbank, Ignazio Visco. "Vor diesem Hintergrund erhöhen zu rasche und deutliche Zinserhöhungen das Risiko einer Rezession." Auch Lagarde verwies in der Pressekonferenz auf die deutliche Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität im dritten Quartal. "Und wir erwarten eine weitere Abschwächung im weiteren Jahresverlauf und zu Beginn des nächsten Jahres" sagte sie.

"Eine leichte Rezession lässt sich zu diesem Zeitpunkt wohl kaum noch vermeiden, womöglich hat sie schon begonnen", meint Mönch. Allerdings sei der Arbeitsmarkt unverändert robust und die Abwertung des Euro helfe der Exportwirtschaft. "Sollte sich die Lage in der Ukraine und auf den Energiemärkten nicht weiter verschärfen, rechne ich daher nicht mit einer tiefen Rezession", prognostiziert der Fachmann. "Eine Rezession gehört quasi als Nebenwirkung zur Kur gegen den Preisanstieg", betont Finance-Professorin Bannier. Unabhängig davon sei der Zinsschritt unausweichlich: "Der Wirkungsmechanismus hoher Zinsen über die Wirtschaft ist das zentrale Werkzeug der Notenbanken."

Wieland verweist noch auf einen weiteren Aspekt: "Wir haben dieses Mal keinen Einbruch der Nachfrage bei weiterhin hohem Angebot. Stattdessen haben wir ein Einbruch des Angebots, weil aufgrund der hohen Energiekosten die Produktion zurückgeht." Tendenziell könne die Inflation also sogar in der Rezession hoch bleiben oder zunehmen, weil die Nachfrage nicht so schnell sinke wie das Angebot. Man könne sich nicht darauf verlassen, dass allein der wirtschaftliche Abschwung zu einem Rückgang der Preise führt.

Wie geht es weiter?

SAFE-Direktor Krahnen sieht dagegen ein ganz anderes Risiko: "Ich sehe die Gefahr, dass bei den Zentralbanken nicht ausreichend berücksichtigt ist, dass etwa in England und den USA gleichzeitig auch erhebliche Zinssteigerungen vorgenommen werden." Der Gesamteffekt gleichzeitiger Zinserhöhungen könne stärker sein als erwartet. "Deshalb vermute ich, dass bei zukünftigen Zinserhöhungen die Schritte deutlich kleiner sein werden als 0,75 - eben um den Paralleleffekt in anderen eng verbundenen Währungsräumen einzubeziehen", so Krahnen.

In welchem Tempo die Währungshüter ihre Zinsschritte fortsetzen werden, ließen sie heute offen. Dass sie weitergehen, scheint aber sicher. Der EZB-Rat "geht davon aus, dass er die Zinsen weiter anheben wird", erklärte die Notenbank. Auch Bannier ist davon überzeugt: "Ich gehe fest davon aus, dass wir weitere Zinsschritte sehen werden." Die Höhe hänge stark von der weiteren Entwicklung der aktuell preistreibenden Faktoren ab - also vornehmlich der Energiekosten.

"Es sind noch deutliche Zinsschritte nötig - möglicherweise sogar über die Erwartungen der Finanzmärkte von drei Prozent 2023 hinaus", sagt Wieland. Ob die EZB das liefere, sei er sich nicht so sicher. Dem Volkswirt zufolge werden Stimmen laut werden, die meinen, durch die Rezession oder die sinkenden Energiepreise würden die Preise automatisch fallen. "Ich halte beides für unwahrscheinlich - die Inflation hat sich längst verbreitet."