Schuldendienst des Bundes Wo Christian Lindner plötzlich Geld fand
Dass die Koalition im Haushalt plötzlich Spielräume ausmacht, hat auch mit neuer Buchhaltung zu tun: So sollen Gewinne oder Verluste bei der Ausgabe von Bundesanleihen anders verrechnet werden.
Bei den Gesprächen der Ampelkoalition um den Bundeshaushalt des nächsten Jahres hat Bundesfinanzminister Christian Lindner offenbar einen Gutteil des Verhandlungslochs durch eine neue Buchhaltung gefüllt. Dadurch ist nicht mehr und nicht weniger Geld in der Kasse. Die Staatsschulden sind nicht niedriger oder höher als zuvor. Milliardenbeträge des Schuldendienstes werden nur anders gebucht als zuvor und so in die Zukunft geschoben.
Der "Spiegel" hatte darüber bereits vor einer Woche berichtet. Das "Handelsblatt" und die Nachrichtenagentur dpa bestätigen das heute, ohne ins Detail zu gehen. Es gibt noch keine Bestätigung des Bundesfinanzministeriums. Auf Anfrage dazu hieß es vom Ministerium nur, es werde "zu gegebener Zeit" auf das Thema "entsprechend eingehen". Stellungnahmen von Regierung und Regierungsfraktionen heute stellten vielmehr Sozialprogramme, Entlastungen und Wachstumsimpulse in den Vordergrund.
Eine andere Art der Geldschöpfung
Wenn der Staat Schulden macht, verkauft er regelmäßig Schuldverschreibungen, zum Beispiel Bundesanleihen. Dabei kommen häufig Zuschläge oder auch Abschläge in die Kasse. Statt des auf dem Wertpapier gedruckten und im Bundeshaushalt vorgesehenen Betrags zahlen Geldgeber mal mehr und mal weniger dafür. Das hängt vom jeweiligen Zinsniveau am Markt ab.
Diese Abweichungen ("Agio", "Disagio") gleichen den Unterschied zwischen aktuellem Marktzins und dem im Wertpapier vorgesehenen Zins aus. Damit ist die Abweichung nichts anderes als eine vorweggenommene Zinszahlung. Nach kaufmännischer Vernunft müsste sie gleichmäßig über die Laufzeit der Anleihe verteilt werden. Genau das hat das Bundesfinanzministerium aber jahrelang nicht getan. Es hat sich nur die reine Ein- oder Auszahlung angesehen und sie komplett im jeweils laufenden Jahr gebucht.
Hochpolitische Buchungspraxis
Solange bei sinkenden Marktzinsen Zuschläge kassiert werden konnten, gewann das Finanzministerium kurzfristigen Spielraum. Die Kasse klingelte. Dass dafür danach jahrzehntelang hohe Zinszahlungen fällig wurden, war nicht so wichtig - je mehr sich die Amtszeit eines Finanzministers dem Ende zuneigte, desto unwichtiger. Die Schuldenbremse wurde so zulasten künftiger Haushalte kurzfristig und unausgesprochen "quasi unterlaufen", schrieb die Bundesbank in einem Fachaufsatz. 2020 seien so 12 Milliarden Euro locker gemacht worden. Der Bundesrechnungshof stellte fest, dass in neun Jahren 50 Milliarden Euro zusammenkamen. Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, spricht von "Zinsentlastungen auf dem Papier".
Seit zwei Jahren ist die Lage umgekehrt: Wegen steigender Marktzinsen wird weniger Geld eingenommen. Diese einmaligen Abschläge bucht das Finanzministerium auf einen Schlag als Zinskosten. Im Bundeshaushalt stehen so Schreckenszahlen, die Finanzminister Lindner Argumente gegen weiter steigende Staatsschulden geliefert haben. Und sie bieten nun die Möglichkeiten, im Haushaltsentwurf für 2025 die Abschläge kaufmännisch korrekt zu buchen und so den Schuldendienst auf dem Papier zu reduzieren.
Um welche Beträge geht es?
Der "Spiegel" gibt die Einsparung für 2025 mit vier Milliarden Euro an. Im Lichte früherer Jahre erscheint das niedrig angesetzt. Für 2023 waren im Bundeshaushalt 37,6 Milliarden Euro für Zinsen vorgesehen. Nach Berechnungen der Bundesbank, die dem Hessischen Rundfunk vorliegen, wären bei kaufmännisch richtiger Buchung nur 21,5 Milliarden Euro fällig gewesen, also gut 16 Milliarden Euro weniger. 2024 sind Zinskosten von 37 Milliarden Euro angesetzt, wovon 10,5 Milliarden Euro auf einmalige Abschläge entfallen. Da das Jahr noch nicht zu überschauen ist, bleibt offen, wieviel davon auf Folgejahre hätte verteilt werden können.
Von jeher gab es Kritik
Bundesbank, Bundesrechnungshof und der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums kritisieren die bisherige Buchungsmethode bereits seit sieben Jahren. Steuerzahler-Präsident Holznagel mahnte die kaufmännischen Grundsätze der "Klarheit und Wahrheit" an. Vergangene Woche teilte das Ministerium mit, man habe sich mit den Argumenten befasst "und prüft sorgfältig darauf aufbauende Konzepte". Was bedeutet: Jetzt, wo dringend Geld in den Kassenbüchern stehen muss, soll die Buchungspraxis geändert werden.
Die aktuelle Verschuldung der Bundesrepublik beträgt gut 1,7 Billion Euro - das sind elf Nullen (ohne Länder, Kommunen und Sozialkassen). "Die Erfahrung zeigt, dass der Bund einmal aufgenommene Schulden nie wieder zurückzahlt", schrieb der Präsident des Bundesrechnungshofs, Kay Scheller im April. Fällige Schulden würden stets mit neuen Schulden bezahlt. Scheller nennt das eine "Ewigkeitslast".
Da das Finanzministerium zu Zeiten niedriger Zinsen wenig langlaufende Kredite aufgenommen hat, werden für die Staatsschulden zunehmend steigende Zinsen fällig - egal, wie die Zu- und Abschläge bei Schuldverschreibungen gebucht werden. Steuerzahler- Präsident Holznagel mahnt, die Buchungsfragen dürften nicht dazu dienen, "um den Menschen einzureden, dass der jüngste Anstieg der Zinslasten dann doch nicht so dramatisch war".