Eine Hand in einem Arbeitshandschuhe umfasst ein Zahnrad.
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Anhaltende Konjunkturflaute Bleibt Deutschland der "kranke Mann Europas"?

Stand: 12.12.2024 16:16 Uhr

Nach zwei Jahren Stagnation trauen Experten der deutschen Wirtschaft auch 2025 nur wenig zu. Die Probleme sind überwiegend hausgemacht. Was macht Deutschland falsch - und was müsste sich ändern?

Von Angela Göpfert, ARD-Finanzredaktion

Wie sind die Aussichten für die deutsche Konjunktur?

Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute trauen der deutschen Wirtschaft auch 2025 nur wenig zu. So rechnen die Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nur mit einem Mini-Wachstum von 0,2 Prozent im kommenden Jahr, während die Forscher des Münchner ifo-Instituts und des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle jeweils ein Plus von 0,4 Prozent errechnet haben.

Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW) geht gar von einer Stagnation aus. Erst für 2026 rechnen die großen Wirtschaftsforschungsinstitute dann wieder mit einem etwas stärkeren Wachstum von 0,8 bis 1,2 Prozent.

Wie lief es 2024 für die deutsche Wirtschaft?

Die deutsche Wirtschaft dürfte im laufenden Jahr erneut geschrumpft sein. Das ifo-Institut geht von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,1 Prozent aus. Das DIW und das IfW sehen aktuell ein Minus von 0,2 Prozent.

Die aktuelle Schwäche der deutschen Volkswirtschaft ist allerdings kein neues Phänomen - im Gegenteil: Die größte Volkswirtschaft der Eurozone kommt bereits seit drei Jahren nicht mehr vom Fleck. Seit dem dritten Quartal 2021 wächst die deutsche Wirtschaft bestenfalls im Promillebereich. Die Wachstumsraten auf Quartalsbasis lagen seither zwischen minus 0,5 und plus 0,6 Prozent im Vergleich zu den Vorjahreswerten.

Welche Folgen hat das für den Arbeitsmarkt?

Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich bislang allen konjunkturellen Schwächen zum Trotz als relativ robust erwiesen: Die Arbeitslosenquote schwankte in diesem Jahr zwischen 5,8 und 6,1 Prozent, und die Zahl der Beschäftigten befindet sich weiterhin auf einem sehr hohen Niveau.

Doch das könnte sich nun ändern: Angesichts der schwächelnden Konjunktur wollen einer Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge zahlreiche deutsche Unternehmen den Rotstift beim Personal ansetzen. Demnach planen vier von zehn deutschen Unternehmen im kommenden Jahr einen Stellenabbau.

"Das Straucheln der deutschen Industrie schlägt zunehmend auf industrienahe Dienstleistungen und den Arbeitsmarkt durch, was trotz Fachkräftemangels zu Kurzarbeit und mancherorts zu Entlassungen führt", ist auch das DIW überzeugt. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte zumindest vorübergehend steigen. Die ifo-Ökonomen rechnen ebenfalls mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Wie schlägt sich Deutschland im internationalen Vergleich?

Tatsächlich steht Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern der Eurozone schlecht da, das zeigt schon ein Blick auf die gesamte Wirtschaftsleistung im Euroraum: Diese wuchs im dritten Quartal 2024 um 0,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit deutlich stärker als das deutsche BIP, das gerade einmal um 0,1 Prozent zulegte. Vor allem Spanien, aber auch Frankreich zeigten dynamische Zuwächse. Auch 2025 dürfte die Wirtschaft im Euroraum insgesamt deutlich stärker wachsen als in Deutschland.

Schaut man über den Tellerrand der Eurozone hinweg, so wird die deutsche Schwäche sogar noch augenfälliger: In diesem Jahr wird die Wirtschaftsleistung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften voraussichtlich um 1,8 Prozent steigen, erwartet das DIW, während sie in Deutschland um 0,2 Prozent fallen dürfte.

Und im kommenden Jahr dürfte Deutschland einer Prognose der Industriestaaten-Organisation OECD zufolge so langsam wachsen wie keine andere entwickelte Wirtschaftsnation. Die deutsche Wirtschaft läuft damit Gefahr, sich immer stärker von der positiven weltwirtschaftlichen Entwicklung zu entkoppeln.

Was macht Deutschland falsch?

Deutschlands einst größte Stärke, seine mächtige Industrie, gilt aktuell als größte Schwäche. Das Verarbeitende Gewerbe leidet Experten zufolge unter strukturellen Problemen wie Personalengpässen, hohen Kosten und bürokratischen Hürden. So liegen etwa die Strom- und Gaspreise weiterhin über dem Vorkrisenniveau, zahlreiche Branchen leiden bekanntermaßen unter einem anhaltenden Fachkräftemangel. All das hat zu einem "spürbaren Verlust an Wettbewerbsfähigkeit vor allem auf den außereuropäischen Märkten" geführt, sind die ifo-Forscher überzeugt.

Hinzu kommt: Das Verarbeitende Gewerbe hat hierzulande einen deutlich höheren Anteil an der Bruttowertschöpfung als im Durchschnitt des Euroraums - entsprechend leidet die deutsche Konjunktur überproportional. Der zunehmende Protektionismus und die geopolitischen Spannungen setzen der exportorientierten deutschen Wirtschaft ebenfalls überdurchschnittlich stark zu. "Das deutsche Wirtschaftsmodell scheint also etwas aus der Mode gekommen zu sein", schlussfolgern die Experten der Helaba.

Welche Rolle spielt die Schuldenbremse?

Der wirtschaftsliberale britische "Economist" sieht in der Regierungszeit Angela Merkels einen wichtigen Grund für die deutsche Wachstumsschwäche: 16 Jahre Durchwursteln ohne Reformen hätten Deutschland wieder einmal zum wirtschaftlich "kranken Mann Europas" gemacht. Die Verfassungsänderung zur Begrenzung der Haushaltsdefizite, die Schuldenbremse, die noch aus der Zeit von Merkel im Jahr 2009 stamme, habe zu einer chronischen Unterinvestition bei öffentlichen Dienstleistungen geführt. Investitionen hätten Deutschland fit für das 21. Jahrhundert machen können, nun sehe das Land marode aus.

Mit seiner Kritik an der Schuldenbremse steht der "Economist" indes nicht allein da; auch zahlreiche Ökonomen hierzulande sehen in der Schuldenbremse ein maßgebliches Investitions- und Wachstumshemmnis und den Grund etwa für die schlechte Infrastruktur in Deutschland.

Was könnte Deutschland besser machen?

Um sich selbst am Schopf aus der Konjunkturmisere zu ziehen, könnte der deutsche Staat die Weichen für die Wirtschaft neu stellen. Die Forscher des ifo-Instituts machen dazu konkrete Vorschläge wie etwa eine sinkende Steuerbelastung der Unternehmen sowie sinkende Bürokratie- und Energiekosten, den Ausbau der Digital-, Energie- und Verkehrsinfrastruktur und eine Erhöhung des Arbeitsangebots, etwa durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Älteren und Frauen oder eine erleichterte Zuwanderung von Fachkräften.

Sollte Deutschland an diesen Stellschrauben drehen, würde das BIP der ifo-Prognose zufolge im kommenden Jahr um 1,1 Prozent wachsen - und damit fast dreimal so schnell wie im Basisszenario der Forscher, das nur ein Wachstum von 0,4 Prozent vorsieht.

Was bedeutet die deutsche Schwäche für die Geldpolitik?

Die anhaltende konjunkturelle Schwäche der größten Volkswirtschaft der Eurozone beeinflusst maßgeblich die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), zieht Deutschland doch das Wachstum im gesamten Währungsraum nach unten. Die Währungshüter um EZB-Chefin Christine Lagarde sind gefordert.

Heute haben sie die Leitzinsen in der Eurozone abermals um 0,25 Prozentpunkte reduziert. Der Einlagensatz fiel auf 3,0 Prozent. Im Juni hatte die EZB die Zinsen erstmals seit knapp fünf Jahren wieder gesenkt. Weitere Zinsschritte folgten im September und Oktober.

Allerdings sehen sich die Währungshüter mit Blick auf den künftigen Zinspfad einem Dilemma gegenüber: Die Kerninflationsrate lag im November mit 2,7 Prozent immer noch deutlich über dem EZB-Ziel von 2,0 Prozent. Entsprechend ungewiss sind die weiteren geldpolitischen Perspektiven im neuen Jahr.

Sollte die EZB aber weiterhin nur zögerlich an der Zinsschraube drehen, so droht eine Verschärfung der strukturellen Wachstumsprobleme - gerade auch in Deutschland.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk in den Nachrichten am 12. Dezember 2024 um 13:00 Uhr.