"Concept Store" statt Karstadt-Kaufhaus Wenn sich Einzelhandel neu erfindet
Schließt in der City das große Warenhaus, stellt das Innenstädte vor Probleme. Ein Beispiel aus Mainz hat gezeigt, wie ganz neue Ladenkonzepte auf leerstehenden Flächen funktionieren können.
Schicke Tragetaschen aus wiederverwendetem Plastik aus den Weltmeeren; Seifen, die an Kunsthandwerk erinnern; Zimmerpflanzen im Aktionsverkauf, die selbst in die Jahre gekommene Studenten-WGs stylish werden lassen: Alles, was rund um die stillgelegte Rolltreppe im Erdgeschoss der einstigen Karstadt-Filiale auf FSC-zertifizierten Holzböcken und Palletten angeboten wurde, wird nun in Kisten verpackt und abtransportiert.
Die Lichter sind zum zweiten Mal ausgegangen im ehemaligen Warenhaus mitten in der Mainzer Innenstadt. Mit dem "Lulu Concept Store", benannt nach der Ludwigstraße, an der das Händler-Konglomerat liegt, hat eine bunte Zwischennutzung geendet vor dem geplanten Abriss des Komplexes.
Ein Hauch von Metropole in Mainz
Drei Jahre lang konnte sich die laut Betreiber 165.000 Besucherinnen und Besucher in dem ansonsten für die Generation Y und Z eher drögen Teil der Mainzer Innenstadt ein wenig wie am Prenzlauer Berg in Berlin fühlen. Denn regionale Start-ups und Kollektive mit regionalen Produkten verkauften nebenher ein "look and feel", das es nicht gibt im Internethandel, wo sich die eher online-affine Peergroup üblicherweise tummelt.
Junge und junggebliebene Kundschaft fand hier im Flohmarktflair, was ihr ein Bildschirm nicht bieten kann: ein Einkaufserlebnis, bei dem gemeinsam mit Freunden die Ware begutachtet und sie geschmeckt, gerochen, gefühlt, besprochen werden konnte. Was an eine Feinschmeckerabteilung von klassischen Warenhäusern erinnerte, hatte hier eine hippe und nachhaltige Anmutung. Dafür nahmen die Kunden auch ein höheres Preisniveau in Kauf.
Und die einen oder anderen Abstriche in puncto Verkaufsraumantlitz: "Der Store ist schmutzig, veraltet und nicht hergerichtet" lautet eine Internetrezension, "kein schöner Ort zum shoppen und wohl fühlen" eine andere.
"Shabby chic" als Konzept: Der "Lulu Concept Store" in Mainz
Bedürfnis der Einzigartigkeit
Aber das perfekte Unperfekte war Programm: Denn hinter dem, was nach Spontaneität aussah - als sei alles flugs und provisorisch zur Ladenöffnung am Morgen aufgestellt worden ohne Zeit für perfekten Showroomlook -, steckt Marketing. Die "Lulu" bediente sich dabei zweier Ladenkonzepte: als Mix von "Pop-up Store" und "Concept Store".
Erstgenannter ploppt scheinbar kurzerhand in leerstehenden Räumlichkeiten auf und wirkt, als werde er auch ebenso so schnell wieder verschwinden. Dieses Zeitfenster spricht laut Verkaufsstrategen Kundschaft mit einem ausgeprägten Bedürfnis nach Einzigartigkeit an, die einmalige, exklusiv anmutende oder sogar individualisierte Ware erwartet.
Die Branche spricht von "Need for Uniqueness". Der "NFU" werde häufig als Motiv für das Handeln der Kunden genannt, erklärt Waldemar Toporowski, der an der Universität Göttingen auch zu "Pop-up-Stores" und verwandten Konzepten forscht: "Was 'unique' ist, kann sich natürlich wandeln. Künstliche Verknappung durch Vergänglichkeit erhöht in der Tat den Druck zu kaufen."
Eine Chance für Start-ups
Dominique Liggins nennt andere Ziele. Er ist einer von dreien, die das "Lulu" in einer Agentur organisierten und am Laufen hielten: "Wir wollten für kleine Händler und Start-ups ermöglichen, dass sie sich hier ausprobieren können in einer 1a-Innenstadtlage - etwas, was für sie sonst nie möglich ist." So traten hier Händler, die ihre Ware bisher allein online verkauften, erstmals an echte Tresen. "Hier konnten sie Interaktion mit Kunden ausprobieren. Die ist anders als im Onlinehandel."
Und ihr Risiko war kalkulierbar. Einstiegsmiete: "150 Euro inklusive Nebenkosten für vier, fünf Quadratmeter, wenn wir in dem Interessenten ein Potenzial für mehr Kundenfrequenz, Qualität und Bereicherung des Sortimentes sahen", erklärt Liggins. Der Mietvertrag: monatlich kündbar, völlig ungewohnt im Gewerbe.
Mehr als 100 Einzelhändler am Start
Dieses flexible Spar-Abo ermöglichten die Eigentümer. Tina Badrot ist Geschäftsführerin der Projektentwicklergesellschaft, die das Haus kaufte, als es noch von Karstadt gemietet war. Als Karstadt auszog, wollte sie das Gebäude nicht leer stehen lassen und stattdessen experimentieren. "Und wenn ich alles dicht mache und Bauzäune aufstelle für vier, fünf Jahre - danach den Standort wieder aufleben zu lassen, kostet mehr Kraft und somit auch Geld. Diese Lernkurve haben wir uns gegönnt und profitieren dadurch für zukünftige Objekte."
Auf diese Art steigerte das "Lulu" jahrelang die Innenstadtattraktivität von Mainz. Mehr als 100 Einzelhändler betrieben abwechselnd oder komplett über diese Zeit hinweg ihren Verkauf - mal verfing ihr Angebot nicht, mal reüssierte es dermaßen, dass ein eigenes Ladengeschäft angegangen wurde.
Kleine Mengen versprechen Exklusivität
Mit diesem Rein und Raus erfüllte das "Lulu" deshalb auch Kriterien des "Concept Store": Vergleichbar mit etwas zwischen Boutique und Kaufhaus, gibt es dort praktisch alle Warengattungen, und doch scheint alles exquisit und einzigartig, weil statt Masse nur geringe Auswahl feilgeboten wird.
Willst Du gelten, zeig Dich selten - mach Dich rar und Du bist ein Star: Das verdeutlicht das Problem des Kaufhauses, das Waren stapelt, um Kundenerwartung über Quantität zu stillen. In die "Lulu" schleppten Händler anscheinend nur das Beste, die zweite und dritte Wahl ließen sie weg.
Kaufhäuser müssen sich neu erfinden
"Das 'Standard-Kaufhaus' hat sich mit seinem Alles-unter-einem-Dach-Konzept seit Jahren überlebt, weil es nichts Besseres bietet als stationäre Fach- und Drogeriemärkte oder als - bei Bekleidung - Zara, P&C und H&M oder - online - die Amazons und Zalandos", erklärt Bernhard Swoboda. Er ist Professor für Marketing und Handel an der Universität Trier und kennt "Pop-up"- und "Concept Stores" aus Studien, die bis in die 1990er-Jahre zurückreichen.
Erfolgreich seien fast nur noch Kaufhäuser, die Tradition - auch lokale Produkte - mit Luxus kombinierten und eine bestimmte Sortiments- und Beratungsqualität anböten. "Die kann es online kaum geben, denn Luxusmarken vertreiben online über eigene Kanäle, nicht über Amazon. Und die persönliche Beratung ist online so selten wie Wasser in einer Wüste."
Daher lasse sich der Erfolg von "Lulu" als Übergangskonzept verstehen, so Swoboda: "Es ist ein selektives, qualitativ hochwertigeres und für die Zielgruppe sicherlich attraktives Erlebniskonzept mit einem Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der City-Händler und -Anbieter. Der Mix macht es."
Neue Konzepte lohnen sich für die Städte
Wenn Innenstädte ihren großen Publikumsmagneten Warenhaus verlieren - kann eine Nach- und Zwischennutzung à la "Lulu" ein Mittel sein, deren Lücke zu nutzen? Warenhaus-Upcycling als Lichtblick für panische Stadtobere und nervöse Einzelhändler rund um einen verwaisten Publikumsmagneten?
"Das funktioniert über längere Zeit nur, wenn beispielsweise ein City-Manager professionell neue Anbieter gewinnt, das Konzept immer weiter überraschend und erlebnisreich gestaltet wird - und das bei geringen (Miet-)Kosten", analysiert Swoboda.
Langfristig sei es für Städte lohnend, wenn durch den einen oder anderen "Pop-up"- und "Concept Store" ein Leerstand in der City besetzt werden könne. "Und zwar dauerhaft, weil das Konzept eben funktioniert und zur Belebung beiträgt", findet Swoboda und zählt Erfolgsfaktoren auf: "Aufmerksamkeit, Frische, Vielfalt und Erlebnis, Exklusivität, Markenpräsenz oder Flexibilität."
Mainzer "Lulu" als Vorbild?
Das alles hätten wohl auch zahlreiche Entscheidungsträger jener Städte gern, denen ihr Warenhaus abhandengekommen ist: "Seit unserer Eröffnung hatten wir viele Besuche von Akteuren aus ganz Deutschland, die sich das hier anschauen wollten", erzählt Liggins. Drei weitere Städte betreue die Agentur mittlerweile, bei anderen habe sie als Impulsgeber gedient. "Was wir ihnen immer sagen: Die Entscheidungswege müssen kurz sein - sei es die mit dem Eigentümer, aber auch mit den Behörden. Das Glück hier war, dass beispielsweise ich als ehemaliger City-Manager der Stadt viele Ansprechpartner bereits kannte."
Forscher Toporowski sieht als Notwendigkeit für einen Erfolg auch, dass die Stadt ihr bestehendes Angebot genau kenne: "Die Einwohner einer Stadt, die als Standort dient, müssen ausreichend 'Need for Uniqueness' aufweisen. Ob das Konzept an einem Ort funktioniert, dessen temporäre Nutzung keine natürliche Ursache hat, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Beispiele dafür gibt es."
Geplanter Neustart im Neubau
So eines zu schaffen, hofft auch Tina Badrot. Denn auch wenn zum Jahreswechsel der Nutzungsvertrag endete, könnte die "Lulu" wieder auferstehen - sobald das steht, wofür sie nun weichen muss: An selber Stelle soll das "Cityquartier LU:" entstehen, ein Gebäudekomplex mit Genuss, Kultur und Handel. In dessen Zentrum: eine neue "Lulu".
Badrots Projektgesellschaft wirbt schon jetzt mit "einer Pop-up-Halle im Erdgeschoss, in der sich internationale Marken, lokale Publikumslieblinge und Start-ups in temporären Ladeneinheiten präsentieren können".