
Bedrohung durch Russland Europas Rüstungsindustrie braucht einen Plan
Europa will aufrüsten, doch das ist nicht leicht nach jahrelanger Sorglosigkeit unter dem Schutz der USA. Experten zufolge muss die EU in Rüstungsprojekten enger zusammenarbeiten, um sich besser zu schützen.
Die Annäherung von US-Präsident Donald Trump an Russland, seine Aussagen zur Ukraine und zur EU haben für viele Beobachter noch einmal klar gemacht: Zu lange hat sich Europa offensichtlich unter dem militärischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten ausgeruht, zu wenig haben die EU-Mitgliedstaaten für die eigene Verteidigungsfähigkeit getan.
Das soll sich ändern. Die voraussichtlichen Koalitionspartner CDU/CSU und SPD haben sich auf eine Lockerung der Schuldenbremse geeinigt, um die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen legte am Dienstag einen milliardenschweren "Plan zur Wiederaufrüstung Europas" vor. Insgesamt könne Europa so "nahezu 800 Milliarden Euro" mobilisieren.
Zu stark auf "nationale Champions" gesetzt
Ein Herzstück der EU-Strategie ist es, Synergieeffekte der europäischen Rüstungsindustrie zu schaffen und mehr gemeinsame Verteidigungsprojekte anzustoßen. Denn insgesamt ist Europas Verteidigungsindustrie nicht nur relativ klein, sondern auch zersplittert und damit wenig effizient.
Das hat vor allem eine Ursache. "Bisher haben die nationalen Behörden Europas vorwiegend die eigenen Champions unterstützt und die lokale Wertschöpfung damit gefördert", sagt Christian Cohrs, Analyst für Rüstung bei M.M. Warburg, gegenüber tagesschau.de.
"Wildwuchs an Systemen"
Sprich: Jedes Land bestellt eigene Panzer, Flugzeuge, Drohnen und Co. Und zwar mit eigenen Anforderungen. Das ist teuer und aufwendig. Das zeigt sich auch an einer Zahl: Europa habe derzeit rund 150 Waffensysteme, die USA nur wenige, sagt Cohrs: "Europa muss sich hier auf Systeme einigen." Das sei für die Ausbildung der Streitkräfte, für die Wartung und die Ersatzteil-Beschaffung essenziell. "Je größer der Wildwuchs an Systemen ist, desto ineffizienter sind sie.”
Außerdem müssten nach Einschätzung des Analysten Parallel-Entwicklungen vermieden werden: "Einige Projekte sind zu groß und zu teuer." Es gehe nicht um Abhängigkeit von nur einem Anbieter, sondern darum, viele verschiedene Kräfte zu bündeln, so Cohrs. Das zeige sich aktuell bei Kampfjet-Projekten.
Gemeinsame Entwicklung eines Kampfjets
BAE, Europas Rüstungsunternehmen Nummer Eins, arbeitet beispielsweise mit dem italienischen Rüstungskonzern Leonardo als Europas drittgrößtem Player und der japanischen Mitsubishi Heavy Industries an einem neuen Kampfjet. Hier könnten die Unternehmen auch mit Airbus zusammenzuarbeiten.
Ihr Programm "Global Combat Air" ähnelt laut BAE dem von Airbus und Dassault Aviation namens "Future Combat Air System" (FCAS). Beide setzen auf Drohnen ohne Bemannung, die bemannte Kampfjets mit Piloten umgeben. Airbus hatte sich ebenfalls zu einer Kooperation bereiterklärt. Das wäre günstiger und ginge schneller. "Es hängt ein wenig von der Bereitschaft unserer Regierungen ab, zu kooperieren", sagte BAE-Chef Charles Woodburn kürzlich.
Mehr Großaufträge - geringere Kosten
Wenn Europa seine Verteidigung besser koordiniert, würde das viel Geld sparen helfen. Nach Einschätzungt von Guntram Wolff, Professor für Ökonomie an der Solvay Brussels School, und Aleksandr Burilkov, Politikwissenschaftler von der Leuphana Universität Lüneburg, werden 1.400 Panzer, 2.000 Schützenpanzer und 700 Artilleriegeschütze benötigt. "Die Kosten könnten erheblich gesenkt werden, wenn die Beschaffung gebündelt und mehr Wettbewerb eingeführt würde." Produziert werden müsse mit einer einzigen Norm und im Rahmen großer Aufträge statt vieler kleiner.
Die Experten liefern ein Beispiel. Deutschland habe seit Februar 2022 ingesamt 105 Leopard-II-Panzer für den Eigenbedarf zu einem Stückpreis von 28 Millionen Euro bestellt. Würde Europa zusammen gleich 1.400 Panzer bestellen, sollten die Stückpreise deutlich sinken. Großaufträge machen die Produktionen effizienter, die Stückpreise sinken.
Vor allem US-Konzerne dominieren global
Mehr Großaufträge könnten auch Europas Rüstungskonzerne stärken - und die Unabhängigkeit von den USA verringern. Bisher dominieren den Weltmarkt wenige Unternehmen, vornehmlich aus den USA. Das erste europäische Rüstungsunternehmen rangiert auf Platz 6: das britische Unternehmen BAE Systems mit rund 27 Milliarden Dollar Jahresumsatz.
Zum Vergleich: Die weltweite Nummer 1, Lockheed Martin aus den USA, setzt mit 65 Milliarden Dollar mehr als doppelt so viel um, gefolgt von Raytheon Technologies mit 37 Milliarden. BAE baut Kampfpanzer und -flugzeuge, Kriegsschiffe und Drohnen. In Europa sind neben BAE vor allem Airbus (deutsch-französisch), Leonardo (italienisch), Thales (französisch) und Rheinmetall (deutsch) die marktbeherrschenden Unternehmen.
Es gibt aber auch schon jetzt Beispiele, wo die Zusammenarbeit in Europa klappt. So bauen Airbus, BAE und Leonardo seit Jahren gemeinsam den Eurofighter. Seit 2003 wird das Kampfflugzeug in Serie gefertigt - aktuell die vierte Generation. Erst zum Jahresende hatten Italien (24 Maschinen) und Spanien (25) neue Fighter bestellt. Die Türkei will 40 Eurofighter erwerben - es ist eine Renaissance des Jets. Platzhirsche sind allerdings die Flieger von Lockheed Martin.
Die Vereinigten Staaten sind die größte Militärmacht der Welt. 800 Milliarden Dollar hatten die USA im Jahr 2023 für ihre Verteidigung zur Verfügung, wie der Jahresbericht des Stockholm International Peace Research Instituts (SIPRI) zeigt. In diesem Jahr dürften es mindestens 900 Milliarden werden. Europa vereinte immerhin 569 Milliarden Dollar auf sich. Seit 2014 haben die Europäer laut SIPRI die Ausgaben für Verteidigung bereits um 62 Prozent erhöht. Europas Budget für Verteidigung ist also nicht so klein wie zuweilen gedacht - trotz jahrelang geringer Investitionen im internationalen Vergleich.
In Zukunft werden Europas Verteidigungsausgaben aber wohl deutlich steigen. Wissenschaftler haben ausgerechnet: Würden die USA, die aktuell die Ukraine-Hilfen auf Eis gelegt haben, den Europäern nun ihrer Verteidigung komplett überlassen, bräuchte die EU in den kommenden Jahren eine Verdopplung der Verteidigungsausgaben auf mindestens 250 Milliarden Euro im Jahr. Zu diesem Ergebnis kommen die Experten Guntram Wolff und Aleksandr Burilkov in einer Studie des Kiel Instituts für Weltwirtschaft. Andere Forscher operieren mit ähnlich hohen Zahlen.
Neue Jobs in der Rüstungsindustrie
Die gestiegenen Verteidigungsausgaben hätten nach Sicht von Experten auch positive wirtschaftliche Effekte. "Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben auf drei Prozent bedeutet jährlich weitere 65 Milliarden Euro Zusatzausgaben und schafft beziehungsweise sichert zusätzliche 660.000 Arbeitsplätze in Europa", heißt es etwa eine Studie der Beratungsgesellschaft EY mit der DekaBank. Steigende europäische Verteidigungsausgaben kämen vor allem Unternehmen in der EU zugute.