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interview

Wirtschaftsweise zu Nobelpreisvergabe Wie Demokratie der Wirtschaft hilft

Stand: 14.10.2024 18:45 Uhr

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht in diesem Jahr an drei Wohlstandsforscher. Ihre Erkenntnisse sind von zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Entwicklung von Staaten, erklärt die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier.

tagesschau.de: Das Hauptwerk, für das die Wissenschaftler Daron Acemoglu, Simon Johnson und James A. Robinson ausgezeichnet wurden, stammt bereits aus dem Jahr 2001. Was genau haben die drei erforscht?

Ulrike Malmendier: Die drei Forscher haben sich dafür interessiert, welche politischen Institutionen und auch wirtschaftlichen Systeme sich für ein Land langfristig auszahlen. Und ihre Hypothese, für die sie viel historische und internationale Evidenz anführen, ist, dass inklusive Institutionen - also Institutionen, die es Menschen erlauben, im politischen Bereich mitzuwirken - Anreize schaffen für wirtschaftliches Handeln. Es wird belohnt, man kann nach oben kommen. Es lohnt sich auch, in Bildung zu investieren. All das zahlt sich langfristig für ein Land aus.

Der Gegensatz dazu ist ein System, bei dem eine Schicht der Bevölkerung die Macht hat, alle ökonomischen Gewinne extrahiert und sich daran auch nichts ändern lässt. Das führt zu Hoffnungslosigkeit, zu wenig Anreizen und sehr vielen negativen Effekten für das wirtschaftliche Fortkommen des Landes.

Ulrike Malmendier, Sachverständigenrat Wirtschaft, zur Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Wohlstandsforscher

tagesschau24, 14.10.2024 15:00 Uhr

Die Kolonialzeit als Forschungsreferenz

tagesschau.de: Dabei sind die Preisträger ja ziemlich weit zurückgegangen und haben sich vor allem auch mit der Kolonialisierung und deren Folgen bis heute befasst.

Malmendier: Ja, die drei haben sich natürlich sehr für die ehemaligen Kolonien selbst interessiert. Aber es ist zu einem gewissen Grade auch einfach eine Notwendigkeit, weil wir Ökonomen für unsere Untersuchung sehr gerne - genau wie die Naturwissenschaftler - Experimente durchführen würden. Wir würden zum Beispiel gerne wissen: Was wäre aus Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geworden, wenn es sich nicht unter der Federführung der USA in ein System gewandelt hätte, das darauf setzt, dass Deutschland wieder groß werden soll, dass Deutschland wieder wirtschaftlich stark werden soll und auch politisch stabil? Was wäre gewesen, wenn man hier andere Institutionen etabliert hätte?

Aber natürlich gibt es solche Experimente nicht. Was machen wir Ökonomen stattdessen? Wir gucken in die Geschichte und sehen, ob es da Bereiche gab, wo es so oder so hätte verlaufen können. Und da hat sich die Kolonialisierung als ein "nützliches Experiment" für die Forscher erwiesen, denn man konnte schauen: Gehen da jetzt die Engländer hin oder gehen da mehr die Franzosen hin? Und es waren manchmal wirklich fast zufällige Umstände, die dafür gesorgt haben, dass das eine oder das andere System implementiert wurde. Es geht also darum, Variation zu finden und zu sagen: In dem Land wäre es wahrscheinlich anders gelaufen, wenn die Institutionen anders gewesen wären. Deswegen also der Fokus auf die Kolonialisierung.

Ulrike Malmendier
Zur Person

Ulrike Malmendier ist seit September 2022 Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft. Sie lehrt unter anderem als Professor of Finance an der University of California in Berkeley, Malmendier hat verschiedene Forschungsaufenthalte an der Princeton University, an der University of Chicago, am Max-Planck-Institut in Bonn und an der Universität Oxford absolviert.

"Nicht nur die letzte Krise fixen"

tagesschau.de: Eine These der Preisträger ist, dass weniger rechtsstaatliche Länder - deren Bevölkerung ausgebeutet wird, sich nicht so gut entwickeln kann, die nicht viel Teilhabe hat -, wenig Wachstum generieren. Kann man die Preisvergabe als Plädoyer verstehen für Demokratie und Rechtsstaat?

Malmendier: Ja, in der Tat, das würde ich schon so sagen. Ich denke auch, das würden alle drei so unterschreiben. Insbesondere ist hier wichtig zu sehen, dass es einen Unterschied zwischen kurzfristigen Effekten und langfristigen Effekten gibt im Zusammenhang der Kolonialisierung. Da war es sicherlich oft so, dass kurzfristig unglaublich viel ökonomischer Gewinn erzielt wurde, dass sich die Investitionen in diesen Kolonien gelohnt haben. Aber langfristig, wenn die Systeme und die Institutionen nicht inklusiv, sondern ausbeutend waren, hat man gesehen, dass sich diese Länder nicht gut entwickelt haben.

Auch wenn manchmal Demokratie, Rechtsstaat und inklusive Institutionen vielleicht kurzfristig nicht den Gewinn maximieren, zahlen sie sich langfristig aus. Und das ist ja eine Debatte, die wir vielleicht in etwas milderem Umfang auch in westeuropäischen Ländern und auch in Deutschland haben: Wie können wir unser langfristiges Wachstum sicherstellen und nicht nur gerade die letzte Krise und das letzte Problemchen fixen?

Wie passt China ins Bild?

tagesschau.de: Aber in dem Kontext stellt sich dann ja auch die Frage, wie es ins Bild passt, dass autoritär geführte Länder zum Teil trotzdem ein hohes Wachstum haben - beispielsweise China. Wie passt das ins Bild?

Malmendier: Eine Perspektive ist hier sicher, dass die rasante Entwicklung Chinas 2001, als das Werk der drei Preisträger veröffentlicht wurde, vielleicht noch nicht in diesem Umfang absehbar war. Vielleicht würden einige sagen: "Na ja, einiges müsste man heute anderes anders schreiben, sich damit auseinandersetzen." Eine andere Perspektive ist aber folgende: Man könnte auch sagen, dass die Entwicklung des kommunistischen Systems in China sich dadurch ausgezeichnet hat oder dadurch gekennzeichnet ist, dass es Leuten doch zunehmend Spielräume für quasi marktwirtschaftliches Handeln, für Unternehmertum, für individuellen Erfindergeist gegeben hat.

Wenn man sich anguckt, wie sich Länder unter dem kommunistischen System langfristig entwickelt haben - auch in osteuropäischen Staaten, auch innerhalb von Deutschland, in der ehemaligen DDR -, kann man innerhalb dieser Länder feststellen, dass das es durchaus sehr große Unterschiede gibt. Dort, wo Neuerungen innerhalb der Institutionen hin zu mehr Marktwirtschaft angenommen wurden - und so war es auch in China teilweise der Fall -, hat sich das für die Länder ausgezahlt.

Alle Teile der Bevölkerung mitnehmen

tagesschau.de: Gerade heute meldet die Weltbank, dass der Schuldenstand der 26 ärmsten Länder auf Rekordhoch ist. Und gleichzeitig hat die Nobelpreis-Jury in ihrer Begründung auch folgerichtig gesagt, es sei eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, die großen Einkommensunterschiede zwischen den Ländern zu reduzieren. Dafür sei die Forschung der drei Preisträger wegweisend. Welche Schlüsse können politisch Handelnde daraus ziehen?

Malmendier: Es geht hier wieder darum, den Fokus auf langfristige Effekte zu setzen. Kurzfristig könnte man zum Beispiel denken, dass sich ein System, in dem es extreme Anreize gibt für gewisse wirtschaftliche Eliten, für viel Innovation und Marktmacht-Beherrschung der globalen Märkte zu sorgen, für ein Land lohnt. Aber wenn da große Teile der Bevölkerung nicht mitgenommen werden, wenn Menschen keine Hoffnung haben, den Weg nach oben zu schaffen, eine Rolle zu spielen im politischen und wirtschaftlichen System - dann korreliert das mit langfristig negativen Effekten für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Das zeigt sich vielleicht kurzfristig noch nicht, das zeigt sich vielleicht auch mittelfristig noch nicht, aber langfristig sieht man das in vielen historischen Daten. Und das ist eine Schlussfolgerung aus den Arbeiten, die die drei geliefert haben. Insofern ist das auch immer unsere Perspektive im Sachverständigenrat: Wir müssen an die langfristige Effekte denken. Es ist aus rein wirtschaftlichen Gründen wichtig, im Kopf zu behalten: Nehmen wir alle Teile der Bevölkerung mit, wirtschaftlich und auch politisch?

"Das ist nicht reiner Kapitalismus"

tagesschau.de: Wie lautet denn in diesem Zusammenhang Ihr Rat direkt an die Bundesregierung? Wo könnte sie ganz konkret die Situation verbessern?

Malmendier: Wenn ich versuchen würde, eine Lehre mitzunehmen aus dem Werk der drei heutigen Nobelpreisträger, wäre es genau dieses Thema: sich stark zu bemühen, allen Teilen der Bevölkerung die Chance zu geben, aus ihrem Talent das Beste herausholen zu können, mitzumachen im wirtschaftlichen Kreislauf, zu sehen, dass sich Einsatz, dass sich Arbeit lohnt, dass es sich lohnt, im marktwirtschaftlichen Wettbewerb mitmachen zu wollen.

Wichtig ist dabei: Das ist nicht reiner Kapitalismus. Es geht um Anreize. Wenn wir uns aber zu sehr auf bestimmte Teile der Bevölkerung fokussieren und nur denen durch Steuererleichterungen, Förderungen und so weiter möglich machen, weiter nach oben zu kommen, dann wird das vielleicht nicht kurzfristig, aber mittel- und langfristig zu negativen Folgen für unser Land führen.

Das Interview führte Steffi Clodius, tagesschau.de. Es wurde aus redaktionellen Gründen sprachlich angepasst und leicht gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Oktober 2024 um 16:00 Uhr.