Eine Hausärztin führt in ihrer Praxis eine Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse bei einer Patientin durch.
Interview

Stand der Gendermedizin Das Geschlecht macht den Unterschied

Stand: 27.02.2023 17:45 Uhr

Frauen und Männer zeigen je nach Krankheit andere Symptome und müssen anders behandelt werden. Die Gendermedizin versucht, diese Unterschiede herauszufinden. Von der Forschung in die Praxis ist es allerdings ein langer Weg, sagt die Gendermedizinerin Hochleitner im Interview.

tagesschau.de: Warum ist es wichtig, auf die Unterschiede von Frauen und Männern zu achten?

Margarethe Hochleitner: Mal abgesehen von den sekundären Geschlechtsmerkmalen und den Hormonen ist die Lebenserwartung von Frauen und Männern ein großer Unterschied. Das sehen wir in praktisch allen Gesellschaften. Die Frauen leben zwar überall länger, aber dieses längere Leben ist über Jahre durch Abhängigkeit erkauft. Und das ist natürlich nicht der Wunsch der Betroffenen, auch nicht der Gesellschaft. Pflegeheime sind Fraueneinrichtungen. Diesen Unterschied versucht die Gendermedizin zu reduzieren und zu verbessern.

Der zweite große Unterschied ist die Prävention. Das wissen wir schon sehr lange. Es wird viel von Prävention gesprochen, auch dank den Medien, aber hier nehmen in allen Gesellschaften Frauen deutlich mehr teil als Männer. Da gibt es keinen wirklichen Grund, aber es ist so. Prävention ist weiblich besetzt.

Margarethe Hochleitner
Zur Person
Die Kardiologin Margarethe Hochleitner ist Professorin für Medizin und Diversität an der Medizinischen Universität Innsbruck, Direktorin der Gender Medicine & Diversity Unit im Frauengesundheitszentrum, Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen und Leiterin der Koordinationsstelle Gleichstellung, Frauenförderung und Diversität.

Frauen haben ein stärkeres Immunsystem

tagesschau.de: Welchen Einfluss haben zum Beispiel die Sexualhormone Östrogen und Testosteron?

Hochleitner: Das ist ein großer Punkt, der sehr viel Einfluss hat. Wir wissen zum Beispiel, dass das Immunsystem, das bei Frauen und Männern eigentlich das Gleiche ist, bei Frauen wesentlich stärker durch Östrogene aktiviert ist. Frauen erkranken seltener an Krebs und wenn, haben sie eine bessere Prognose, also leben damit länger. Da sind Männer durch das Immunsystem benachteiligt. Bei Infektionskrankheiten ist es das Gleiche: Bei Corona hat man gesehen, dass schlussendlich mehr Männer auf der Intensivstation landen und an Corona sterben.

Andererseits haben Frauen öfter Allergien, Unverträglichkeiten, Nebenwirkungen von Medikamenten. Auch die Autoimmunkrankheiten sind weiblich, also wenn das Immunsystem entgleist. Zum Beispiel bei Lupus erythematodes sind es 90 Prozent Frauen.

Und auch das spätere Auftreten von koronaren Herzkrankheiten, wird weitgehend auch mit Östrogenwirkungen erklärt. Vor der Menopause haben Frauen selten eine koronare Herzkrankheit. Also die Verkalkung beginnt bei Frauen später, außer sie haben massive Risikofaktoren.

Margarethe Hochleitner, Gendermedizinerin an der Medizinischen Universität Innsbruck, zum Stand der Forschung in der Gendermedizin

tagesschau24

Gendermedizin in der Ausbildung

tagesschau.de: Warum ist die Gendermedizin trotzdem noch nicht überall angekommen, etwa beim Stellen von Diagnosen?

Hochleitner: Das ist sehr unterschiedlich. In Hausarztpraxen hängt es davon ab, welche Fortbildungen einzelne Personen gemacht haben, wofür sie sich interessieren. Bei uns in Innsbruck an der Medizin-Universität haben wir seit fast 20 Jahren Gendermedizin in der Pflichtlehre und damit in den Prüfungen. Im niedergelassenen Bereich ist es, wenn sie es nicht schon zwangsweise im Studium machen mussten, eine Frage der Fortbildung und welche Ausbildung man hat.

In Deutschland ist es sicher auch unterschiedlich in den einzelnen Bundesländern und an einzelnen Universitäten. Berlin war da immer führend mit "Gender in Medicine". Aber es dauert natürlich, bis sich neue Ideen und neue Erkenntnisse durchsetzen.

Nachholbedarf in einigen Fachbereichen

tagesschau.de: Sind Sie mit dem Stand der Genderforschung demnach zufrieden?

Hochleitner: Ich bin eine alte Feministin - ich bin nie zufrieden. Da kann sich immer was verbessern. Natürlich dauert es eine gewisse Zeit, bis es wirklich überall etabliert ist, bis es in den Studienplänen ist und in der Fortbildung. Begonnen hat es mit Medikamententestungen. Da gibt es zigtausende wissenschaftliche Artikel zu diesen Themen. Aber es gibt Fächer in der Medizin, wo Gendermedizin sehr viel weniger vorhanden ist.

Was unsere Forderung immer war und sein muss: Alle medizinischen Erkenntnisse, alles was wir Mediziner an unsere Patienten weitergeben wollen, muss geprüft werden, ob es für Frauen und Männer in gleicher Art zutrifft. Und wenn nicht, müssen verschiedene Angebote für Frauen und Männer gemacht werden. Und da ist noch in einigen Fachgebieten Nachholbedarf.

tagesschau.de: Liegt das auch daran, dass Studien für beide Geschlechter doppelt so teuer sind?

Hochleitner: Natürlich ist es eine Kostenfrage. Die Versicherungen für die Studienteilnehmerinnen sind teurer für Frauen, weil die Frauen natürlich auch das Risiko einer Schwangerschaft haben. Es ist teurer, wenn ich zwei Gruppen statt einer nehme. Es dauert länger und für die Pharmaindustrie ist es ganz wichtig, der Erste zu sein, der das Patent anmelden kann. Dann erst "rentiert" sich die Medikamentenentwicklung.

Das Geld ist ein wichtiger Punkt. Aber das ist keine Neuigkeit. Deshalb die Forderung an die Gesundheitspolitikerinnen, Gesetze zu machen - was schlussendlich auch geschehen ist - die vorschreiben, dass Zulassungsbehörden kontrollieren, dass Studien für beide Geschlechter durchgeführt werden. Und wer das nicht macht, bekommt keine Zulassung. Das ist eine rein politische Entscheidung, die inzwischen auch gelungen ist.

Kaum Daten über trans und nicht-binäre Menschen

tagesschau.de: Wie ist der Stand der Forschung bei trans und nicht-binären Menschen?

Hochleitner: Da ist der Stand ganz besonders schlimm. Und zwar nicht, weil wir die nicht erforschen wollen, sondern weil Medizinforschung - abgesehen von den Fächern Psychologie und Psychiatrie - quantitative Forschung macht. In der Kardiologie zum Beispiel mit 40.000 Intensivpatienten und -patientinnen, die einen Herzinfarkt hatten. Um da einen Trend zu sehen, ob da ein interessanter Punkt ist, kann man die alten Krankengeschichten auswerten. Das Geschlecht steht immer in der Krankengeschichte. Zumindest der Vorname, da kann man weitestgehend das Geschlecht eruieren. Aber von trans oder nicht-binär steht kein Wort drin. Außerdem ist es eine kleine Gruppe.

Diese Art von Forschung ist deshalb schwierig bis nicht machbar. Es ist aber auch so, dass man für quantitativen Studien leichter Forschungsgelder bekommt. Hier ist nicht nur die geringe Fallzahl ein Nachteil, sondern es wäre auch eine Kulturveränderung in der Wissenschaft notwendig. Und das in Kombination dauert natürlich wieder.

tagesschau.de: Nervt es Sie, dass Sie nach so vielen Jahren immer noch grundlegende Sachen erklären müssen, wie die Frage: Was ist Gendermedizin?

Hochleitner: Nein, im Prinzip nicht, weil natürlich viele Dinge schwer erklärbar sind und gerade Gendermedizin eine extrem unglückliche Formulierung ist. Bei Gender denkt man an das soziale Geschlecht. Unter Gendermedizin verstehen wir aber "sex- and gender differences" - also biologische und soziale Unterschiede. Das beginnt schon mit dem Begriff.

Und dann haben wir das Problem, dass unter Gender immer Frauensachen verstanden werden. Aber Gendermedizin hat prinzipiell nichts mit Frauen zu tun sondern mit Geschlechtsunterschieden und diversere Gruppen zu unterscheiden. Das ist schwer vermittelbar. Das sehr gute Wort "Geschlechtsspezifische Medizin", das Sex und Gender inkludieren würde, wird einfach nicht verwendet. Das hat sich nicht durchgesetzt. Also beginnt die Misere schon beim Namen.

Das Gespräch führte Inga Wonnemann, Redakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 27. Februar 2023 um 14:47 Uhr.