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Forschung Versorgung krebskranker Kinder könnte sich verbessern
Für krebskranke Kinder gibt es nicht genug Medikamente, warnen Fachleute. Ein gemeinnütziges Forschungsunternehmen aus Heidelberg könnte helfen.
Jedes Jahr erkranken etwa 2.200 Kinder und Jugendliche in Deutschland an Krebs. Im Vergleich zu den Neu-Diagnosen bei Erwachsenen sind das nur sehr wenige, hier kommen jedes Jahr rund eine halbe Million zusammen.
Die meisten Kinder und Jugendlichen überleben ihre Erkrankung. Mittlerweile gibt es für die meisten Krebsarten zumindest eine gut etablierte Behandlungsmöglichkeit.
"Aber wenn die Kinder einen Rückfall haben, dann haben wir ein Problem“, sagt Ina Oehme. Sie leitet die Medikamententestung am Hopp-Kindertumorzentrum (KITZ) in Heidelberg. "Dann haben wir nicht mehr viele Möglichkeiten, nicht mehr viele Alternativen zur Verfügung."
Peter: Krebsdiagnose im Alter von 12 Jahren
Das zeigt zum Beispiel die Geschichte von Peter. Als er zwölf Jahre alt war, fiel seiner Mutter auf, dass der Junge sein Auge zukniff - ohne es zu merken. Der Augenarzt schickte die Familie an die Uniklinik in Mainz. Die Diagnose dort: ein Weichgewebetumor am Auge. Ein Schock.
Es folgt eine erste Chemotherapie. Nach einem halben Jahr sah erst mal alles gut aus: Der Tumor war verschwunden. Doch nach nur wenigen Monaten war das Auge wieder geschwollen - an der Uniklinik fand das Ärzteteam erneut einen Tumor.
Bei so einem Rückfall, einem sogenannten Rezidiv, gibt es bei Peters Tumorart keine etablierte Vorgehensweise. Das Ärzteteam um Alexandra Russo von der Uniklinik Mainz hatten also keine gut erforschten Therapiemöglichkeiten mehr zur Verfügung. Sie mussten selbst überlegen, was wirken könnte.
"Wir haben dann eine neu erschienene Publikation herangezogen. Das waren noch sehr frühe Daten, aber sie haben einen Hinweis darauf gegeben, dass eine bestimmte Kombination aus Medikamenten wirken könnte.“
Medikamententests an Minitumoren
Russo setzte sich mit Ina Oehme vom KITZ in Verbindung. Im Rahmen des sogenannten INFORM-Programms werden hier Medikamententestungen an Minitumoren durchgeführt.
Die züchten Oehme und ihr Team in kritischen Fällen wie bei Peter aus Tumorproben der Patienten im Labor. Die Tumorkügelchen sind kleiner als ein halber Millimeter im Durchmesser. An ihnen können 80 Medikamente parallel getestet werden.
Noch wird diese Art von Testung erforscht. In einigen Fällen aber bereits mit Erfolg: "Wir können damit eine Vorauswahl treffen“, so Oehme. "Wir können zum Beispiel sehen, welche Medikamente nicht ansprechen.“
Das sei eine wichtige Information, da so unnötige Behandlungen vermieden würden. "Die schöne Information ist aber natürlich, wenn wir auf diese Weise Medikamente finden, die ansprechen.“
In Peters Fall zeigten die Tests an den Minitumoren tatsächlich: Die Medikamenten-Kombination, die Alexandra Russo von der Uniklinik Mainz ausprobieren wollte, ließ die Minitumore aus Peters Tumorgewebe verschwinden. Russo behandelte ihn damit - erfolgreich. Peters Tumor ging ein zweites Mal zurück. Heute ist er 16 Jahre alt und tumorfrei.
Wissenschaftlicher Fortschritt braucht klinische Studien
Auch wenn es in seinem Fall gut ausging: Solche individuellen Heilversuche wie bei Peter sind riskant - und sie bringen kaum Mehrwert für die Forschung. "Die Ergebnisse werden nie systematisch ausgewertet“, sagt Stefan Pfister, Direktor für Präklinische Pädiatrische Onkologie am KITZ in Heidelberg.
"Wenn die Behandlung erfolgreich war, dann werden die Ergebnisse veröffentlicht. Aber wenn es nicht gut läuft, wird es nicht berichtet.“ Auch wenn es Nebenwirkungen gebe, würden sie nicht systematisch erfasst wie in einer klinischen Studie. "Diese Einzel-Heilversuche sind damit nur ein Hilfskonstrukt, wenn wir nichts Besseres zur Verfügung haben.“
Doch klinischen Studien mit Medikamenten, die explizit für Kinder mit Krebserkrankungen entwickelt wurden, sind selten, so Pfister. In den letzten Jahren habe es nur wenige neue Therapien gegeben - im Gegensatz zur Erwachsenenonkologie.
Entwicklung von Kinder-Therapien aufwendig
Laut Matthias Meergans, Geschäftsführer Forschungspolitik des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller vfa, hat man über die letzten Jahre erfreuliche Fortschritte gemacht, besonders bei Tumorarten, die sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen vorkommen. "Tumorarten, bei denen wir allerdings noch weiteren Handlungsbedarf sehen, sind solche, die vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auftreten.“
Darm- und Brustkrebs sind bei Erwachsenen die häufigsten onkologischen Erkrankungen, auch Lungen- und Prostatakrebs. Bei Kindern gibt es diese fast nicht. Bei ihnen sind zum Beispiel Hirn- und Blutkrebsarten dafür häufiger, es gibt viele Unterarten dieser Tumoren.
Das mache die Durchführung von Studien schwierig, erklärt Meergans: "Wenn man die entsprechenden Fallzahlen in angemessener Zeit zusammenbekommen möchte, muss man besser in europäischen Dimensionen denken."
Welche Mittel für Erwachsene helfen bei Kindern?
Eine Alternative zu neuen Kinder-Medikamenten sei es, zu testen, ob man die Therapien der Erwachsenen auch bei Kindern nutzen könnte, sagt Stefan Pfister vom KITZ.
Zwar handle es sich oft um andere Tumorarten - die Wirkmechanismen könnten aber übertragbar sein. Ein Medikament gegen Brustkrebs könnte auch gegen einen Hirntumore bei Kindern wirken, wenn sich die Tumore auf molekularer Eben ähneln.
In den USA muss durch den sogenannten RACE Act bei Krebsmedikamenten für Erwachsene seit 2020 überprüft werden, ob der Wirkmechanismus auch bei kindlichen Krebsarten helfen könnten, auch wenn es sich um eine andere Krebsart handelt. Nur dann können die Therapien zugelassen werden. Fachleute erwarten in der EU zukünftig eine ähnliche Regelung.
Gemeinnütziges Unternehmen soll Tests erleichtern
Die große Herausforderung sei dabei, richtig zu priorisieren, so der Neuroonkologe Pfister vom KITZ. Es gebe Tausende Therapien für Erwachsene mit Krebserkrankungen - man müsse abschätzen, welche davon die wichtigsten und am besten wirksamen Medikamente für Kindertumore seien, die dann in klinischen Studien weiter untersucht werden könnten.
Damit diese Entscheidung leichter fundiert gefällt werden kann, hat das KITZ gemeinsam mit 16 anderen akademischen Institutionen, zehn Pharmafirmen und weiteren Forschungsdienstleistern ein gemeinnütziges Unternehmen gegründet, das ITCC -P4.
Hier werden aus Proben von Kindertumoren sogenannte Tumormodelle hergestellt. Sie können genau analysiert werden. So ist eine Datenbank von kindlichen Tumoren entstanden, mit umfassenden Informationen zu mehreren Hundert Tumorarten, die bei Kindern auftreten. Auf diese können Pharmafirmen und Forschungsgruppen für ihre Forschung zurückgreifen.
Wo lohnt sich eine klinische Studie - wo nicht?
Stefan Pfister vom KITZ war einer der Initiatoren des Projekts: "Wir haben mit unserer bisherigen Datenbank vermutlich die wichtigsten Tumorarten bei Kindern ganz gut abgedeckt. Aber natürlich gibt es gerade in der Kindheit eine extrem große Heterogenität von verschiedenen Tumorarten, sodass wir auch gleichzeitig unser Modell-Repertoire immer weiter noch erweitern müssen.”
Das Ziel des Unternehmens: Wenn Pharmafirmen in Zukunft Krebsmedikamente für Erwachsene auf den Markt bringen wollen, sollen sie diese an den kindlichen Tumormodellen in Heidelberg testen können. So können sie vorsortieren: Wo lohnt sich eine klinische Studie, wo nicht? Gleiches gilt für Medikamente, die bereits auf dem Markt sind und die nie an Kindern getestet wurden.
"Das Ziel ist hier nicht, für einzelne Patienten Medikamente zur Verfügung zu stellen, sondern für klinische Studien“, erklärt Pfister. "Dann können diese Medikamente systematisch bei Kindern getestet werden.“ Das Ziel sei, eine Zulassung zu bekommen: "Sodass man bei krebskranken Kindern von diesen Einzelanwendungen wegkommt und wirklich zugelassene Medikamente verwenden kann.“
2024 wurde ITCC-P4 gegründet, laut Pfister ist die Nachfrage groß. Jetzt müssten die Kapazitäten ausgebaut werden. In Zukunft sollen 70 bis 80 Medikamente pro Jahr an den Tumormodellen getestet werden.