Forschung Gibt es weniger Innovationen?
Bahnbrechende Entdeckungen werden in der Wissenschaft seltener, sagt eine Analyse von Fachartikeln und Patenten aus den vergangenen Jahrzehnten. Was hat sich verändert? Und wie ist die Lage in Deutschland?
Das erste Antibiotikum, die Erfindung des Internets, die erste Chemotherapie - die Liste von bahnbrechenden Entdeckungen der vergangenen 120 Jahre ist lang. Viele Innovationen haben die Welt verändert. Doch genau solche bahnbrechenden Innovationen gehen zurück, sagt eine Studie der Fachzeitschrift Nature.
Weniger Durchbrüche in allen Bereichen
Laut der Studie hat die Innovationskraft der Wissenschaft deutlich abgenommen. Ein Trend, der sich immer wieder angedeutet hatte, aber jetzt kommt eine große Analyse von 45 Millionen Fachartikeln und 3,9 Millionen Patenten über alle Wissenschaftsbereiche hinweg zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Anteil bahnbrechender Entdeckungen ist von 1945 bis 2010 deutlich zurückgegangen - obwohl insgesamt viel mehr geforscht wurde. "Man kann nicht erwarten, dass durch vermehrten Forschungsaufwand auch mehr Sprunginnovationen herauskommen", schätzt Wissenschaftshistoriker Helmuth Trischler das Ergebnis ein.
Mit einem Innovationsscore hat das Forschungsteam analysiert, ob die untersuchten Arbeiten bisherige Theorien bestätigen oder ganz neue Theorien formulieren. Der Innovationsscore ist bei den Fachartikeln von 1945 bis 2010 um 90 Prozent gesunken, bei den Patenten seit 1980 um 78 Prozent. Das ließe sich auch an den verwendeten Verben erkennen. Statt "produzieren" werde immer häufiger von "verbessern" gesprochen, und die Forschenden wiederholten sich.
"Wir stellen fest, dass Fachartikel und Patente immer seltener mit der Vergangenheit brechen und Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen bringen", sagen die Studienautoren in einer Pressemitteilung. Gleichzeitig bestehe aber ein großer Innovationsbedarf - bei Forschung zum Klimawandel oder zum Beispiel in der Weltraumforschung.
Junge Forschungsteams unter Druck
"Insgesamt fehlt den Forschungsteams häufiger der Mut", sagt Marco Tamborini, Wissenschaftshistoriker und Philosoph an der TU Darmstadt. Junge Wissenschaftler müssten viel publizieren und ihre konkreten Forschungsfragen von Förderanträgen abhängig machen. So findet die Studie in den Forschungsarbeiten immer engere Fragestellungen. "Für wirklich große Innovationen ist aber ein breiterer Blick wichtig", sagt Tamborini. Junge Forschende bräuchten mehr Zeit für Kreativität. Vor allem die Qualität und nicht die Anzahl der Arbeiten sollte bewertet werden, fordern auch die Studienautoren.
Kritik an Begutachtungsprozess
Über weitere Gründe für den Innovationsrückgang können Fachleute nur spekulieren. So sind viele leicht zu findende Innovationen vielleicht schon entdeckt worden. Gegen diese Theorie spricht aber der Innovationsrückgang in allen Wissenschaftsbereichen.
Auch der Begutachtungsprozess könnte Innovationen hemmen, weil die Arbeiten von Forschenden aus dem gleichen Gebiet bewertet werden und neue Ideen dann auch eine Konkurrenz darstellen. "Im Schnitt wird eine Forschungsarbeit vor der Veröffentlichung nur von drei Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gegengelesen", sagt Wissenschaftshistoriker Trischler.
Kleine Forschungsteams sind häufiger innovativ
Immer größere Exzellenz-Cluster sind an einzelnen Arbeiten beteiligt, dabei kommen kleinere Forschungsgruppen häufiger zu bahnbrechenden Entdeckungen. Trotzdem haben größere Forschungsteams laut Wissenschaftshistoriker Tamborini mehr Chancen auf größere Fördersummen.
Fehlen in Zukunft große Innovationen, könnte auch die Wirtschaft leiden. Doch wie schlimm ist der Rückgang bahnbrechender Forschungsarbeiten wirklich? Die Studie darf laut Wissenschaftshistoriker Trischler nicht überbewertet werden. Die Metaanalyse habe auch methodische Schwächen. Zwar sinkt der Anteil von großen Durchbrüchen, aber insgesamt ist ihre absolute Zahl dennoch nicht zurückgegangen, einfach weil immer mehr publiziert wird. Auch die Berechnung des Innovationsscores ist umstritten.
Ist langsameres Tempo überhaupt ein Problem?
"Wir sind jetzt eher in einer Phase, in der wir auch ernten, was wir gesät haben", stellt Wissenschaftshistoriker Trischler klar. Vor allem beim Transfer in die Praxis drücke die Politik derzeit aufs Tempo. Gerade in der Biotechnologie steckt noch viel Potential.
Vor allem Deutschland sieht Trischler gut aufgestellt: "In Deutschland lebt ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung, aber wir haben ungefähr zehn Prozent des Innovationsgeschehens." In manchen Bereichen seien es sogar 20 Prozent. Ein Beispiel: Aus Deutschland stammen elf Prozent der weltweiten Patente mit Wasserstofftechnologien - Spitzenreiter in der EU.
Die Analyse der Studie geht nur bis 2010, seitdem gab es mit dem ersten direkten Nachweis von Gravitationswellen oder mit den ersten mRNA-Impfungen weitere große Durchbrüche. So macht sich Wissenschaftshistoriker Trischler nur wenige Sorgen: "Speziell in Deutschland sind die Voraussetzungen für Innovationen noch immer sehr gut."