Nach Pandemie Digitalsucht bei Erwachsenen nimmt zu
Soziale Medien, Online-Shopping, Computerspiele - Experten beobachten seit der Pandemie einen Anstieg von Patienten mit digitalem Suchtverhalten. Dabei sind auch immer mehr Ältere betroffen.
Seit der Corona-Pandemie suchen immer mehr Erwachsene über 30 Jahren Spezialambulanzen wegen digitalen Suchtverhaltens auf. Das ist unter anderem Thema auf dem deutschen Kongress für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der heute in Berlin zu Ende geht.
Digitale Süchte in der Pandemie
Bisher war diese Form der Sucht eher bei jüngeren Menschen unter 30 Jahren verbreitet. Mit der Pandemie stieg aber auch die Zahl der älteren Betroffenen an. Allein in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz haben etwa 25 Prozent mehr Menschen nach Hilfe gesucht als 2021, so Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht in Mainz. Auch der Suchtforscher Hans-Jürgen Rumpf von der Uni Lübeck geht davon aus, dass die Zahl der Hilfesuchenden durch die Pandemie zugenommen hat. Es gebe zwar noch keine umfassenden Studien, aber einige Hinweise darauf.
Betroffene von digitalen Süchten verbringen täglich acht bis zehn Stunden mit Chatten, Sozialen Netzwerken, Computerspielen, Internet-Pornografie oder Online-Shopping und vernachlässigen wichtige Lebensbereiche. Dadurch droht vielen Arbeitsplatzverlust, Trennung oder Verschuldung.
Mehr ältere Personen mit Suchtverhalten
Infolge der Pandemie sei nicht nur die Zahl der jungen Betroffenen, sondern auch die der Betroffenen im Alter von 30 bis 67 Jahren angestiegen, so Wölfling. Suchtkliniken berichten, dass gerade für ältere Menschen gewohnte Strukturen weggebrochen seien und dieser Leerlauf mit Sozialen Medien gefüllt worden sei. Das seien noch keine belastbaren Zahlen, aber Beobachtungswerte.
Wölfling beschreibt die Mechanismen der Vereinsamung von älteren Menschen ähnlich wie die von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Demnach würden die entstandenen sozialen Lücken durch eine intensive Nutzung von Sozialen Medien gefüllt. Die Betroffenen verlören Kontrolle über den eigenen Internetkonsum und würden von den dort angewandten Belohnungsstrukturen, wie zum Beispiel Likes oder Kommentaren, abhängig.
Dopaminschübe im MRT
Hirnscans zeigen, wie die Internetaktivität das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Jeder Like bewirkt, dass das Glückshormon Dopamin freigesetzt wird. Diese Dopaminschübe sind laut Psychologe Wölfling auch im MRT sichtbar und werden von Betroffenen immer wieder gesucht. Auf diese Weise kann sich schleichend eine digitale Sucht entwickeln, gerade auch bei älteren Personen.
Neuer Diagnoseschlüssel
Die Lübecker Universität hat Diagnosekriterien entwickelt, um internetbezogene Störungen festzustellen. Neben der Bildschirmzeit spielen auch noch weitere Kriterien eine Rolle:
- Entzugserscheinungen bei verhinderter Nutzung digitaler Angebote
- Täuschung anderer über das Ausmaß der Nutzung
- Verlust des Interesses an anderen Hobbys oder Aktivitäten
- Gefährdung oder Verlust von Beziehungen, einer Arbeitsstelle oder ausbildungsbezogener beziehungsweise beruflicher Möglichkeiten
"Da müssen mindestens fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um von Sucht zu sprechen", erklärt Experte Wölfling. "Uns ist auch ganz wichtig, dass wir nicht überdiagnostizieren und sozusagen eine digitale Pandemie heraufbeschwören wollen." Inzwischen sind Video- und Glücksspielsucht, sowohl online im Internet als auch ohne Internutzung, im Diagnoseschlüssel ICD 11 der WHO als Suchterkrankungen aufgenommen worden und damit der Kokain- oder Alkoholabhängigkeit gleichgestellt. Bis Ende 2023 will auch Deutschland die neuen Diagnoseschlüssel anwenden.
Unterschiede im Suchtverhalten
Wölfling gibt an, dass Menschen bis 45 Jahre vor allem Online-Rollenspiele und Egoshooter nutzten, während über 45-Jährige im Internet eher nach sozialem Kontakt suchten. Tendenziell nutzten Männer häufiger Online-Pornografie, Computer- oder Glücksspiele. Bei Frauen seien neben Glücksspielen die Sozialen Netzwerke und Messengerdienste weiter verbreitet.
Um mit ihrem Suchtverhalten umzugehen, sollten Betroffene sich professionelle Hilfe suchen. Anlaufstellen können Suchtberatungsstellen und ärztliche oder psychologische Einrichtungen sein. Bei digitalen Süchten wird laut Wölfling meist die abstinenzorientierte Therapie eingesetzt. Die Betroffenen müssen dazu nicht komplett auf das Internet verzichten, sondern nur gezielt auf die Inhalte und Anwendungen, die mit der Sucht in Verbindung stehen.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bietet ein Verzeichnis, um die passende Suchthilfeeinrichtung in der Nähe zu finden.
Beratungs- und Behandlungsstellen, die speziell auf Medienabhängigkeit spezialisiert sind, können Betroffene beim Fachverband Medienabhängigkeit finden