Drei Monate nach den Erdbeben in der Türkei "Das erste Mal kommt jemand in unser Dorf"
Drei Monate ist das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien her. Noch immer löse jedes kleine Nachbeben enorme Anspannung aus, erzählt "Ärzte ohne Grenzen"-Nothilfekoordinator Bachmann.
tagesschau.de: Insgesamt kamen mehr als 57.000 Menschen ums Leben, und mehr als zwei Millionen Menschen wurden alleine in der Türkei obdachlos. Wie geht es diesen Menschen?
Marcus Bachmann: Die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen sind jetzt weitestgehend erfüllt. Aber man muss sich vor Augen halten, dass über zwei Millionen Menschen in Zelten leben und die ersten Menschen jetzt auch in Containern. Sie müssen sich mit dieser neuen Normalität abfinden und versuchen, damit zu leben und auch eine neue Normalität für sich zu schaffen. Menschen, die Traumata erlebt haben, indem Angehörige gestorben sind, indem sie oft mehrere Angehörige zugleich verloren haben. Angehörige, die verletzt beziehungsweise schwer verletzt sind, aber auch ihre Lebensgrundlagen verloren haben.
Viele Betriebe, viele kleine Geschäfte sind zerstört worden. Das heißt, viele Arbeitsplätze sind jetzt verloren gegangen. Kinder beginnen gerade teilweise, in die Schule zu gehen. Das heißt, auch für Schüler sind seit Monaten die Tagesstrukturen verlorengegangen, weil die Schulen entweder zerstört sind oder nicht mehr sicher sind, um sie verwenden zu können.
Und in dieser Situation sind Menschen immer noch damit beschäftigt, ihre Traumata, die sie erlitten haben, zu bewältigen. Und dann kommt noch dazu, dass sie sich auf diese neue Normalität einstellen müssen, was natürlich aufgrund der Unsicherheiten, der Ungewissheiten und teilweise auch der empfundenen Machtlosigkeit eine zusätzliche große Herausforderung für die Menschen ist.
Marcus Bachmann ist Nothilfekoordinator für Ärzte ohne Grenzen und momentan in der Türkei im Einsatz. Er ist Experte für Qualitäts- und Prozessmanagement mit jahrelanger Berufserfahrung in der pharmazeutischen Industrie.
Erste Containerstädte werden aufgebaut
tagesschau.de: Wo und wie genau arbeiten Sie gerade?
Bachmann: Ich bin jetzt selbst in Malatya. Das ist eine der drei am schwersten betroffenen Regionen. Teams von unseren Partnerorganisationen, die wir als Ärzte ohne Grenzen hier in der Türkei unterstützen, arbeiten auch in Adiyaman, in Kahramanmaras und auch in Hatay. Das sind genau die am allerschwersten von dem Beben betroffenen Gebiete.
Viele Menschen leben jetzt in Zelten. Die haben zwölf Quadratmeter, und durchschnittlich leben dort fünfköpfige Familien. Das sind also zwölf Quadratmeter, auf denen sich das ganze Leben abspielt. Gerade entstehen die ersten Containerstädte mit Einwohnerzahlen von zehn, zwölf oder fünfzehntausend Einwohnerinnen - das entspricht in etwa einer Kleinstadt.
Diese Containerstädte sind eine enorme Verbesserung für die Menschen. Sie siedeln um von einem Zelt in einen Container, der hat vier Quadratmeter mehr, also 16 Quadratmeter. Es gibt eine kleine Nasszelle, es gibt eine Kochgelegenheit. Es bedeutet aber auch wieder, dass sich fünfköpfige Familien 16 Quadratmeter teilen müssen. Auf Zeit - also viele Monate - vermutlich auch für viele Familien- viele Jahre. Diese Container stehen dicht an dicht. Das ist ein Meer an Containern, die ganz eng aneinander stehen, mit relativ wenig Raum. Die Menschen haben dort kaum Rückzugsorte.
Orte zum Luft holen
Deshalb bauen wir jetzt gerade sogenannte Nefes-Zentren, das türkische Wort für Luft schöpfen, Atem holen, einen Rückzugsort zu haben. In diesen Zentren wird in erster Linie die psychologische Unterstützung angeboten, individuell, aber auch in Gruppensitzungen. Es gibt Plätze für die Kinder, in denen sie angeleitet und sicher spielen können, in verschiedenen Altersgruppen und dort werden sie auch altersentsprechend versorgt.
Ganz wichtig sind auch entsprechend eingerichtete Räumlichkeiten für hochschwangere Frauen oder Frauen, die gerade ein Baby geboren haben und Ruhe und Rückzugsorte brauchen, um auch ihre Kinder in Ruhe stillen zu können. Dort bieten wir medizinische Beratung an etwa durch Hebammen.
Marcus Bachmann und Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen zwischen den Containern, die aufgebaut werden.
Außerdem gibt es Räume, in denen ganz alltägliche Dinge geschehen können, das Aufladen von Smartphones und Tablets, es gibt Räume mit einem Gratis-Internetzugang, so dass Menschen mit ihren Angehörigen innerhalb und außerhalb des Landes in Kontakt treten beziehungsweise bleiben können. Es gibt Waschmöglichkeiten, vor allem für Mädchen und Frauen, die für sie sicher benutzbar sind, und natürlich auch ganze Batterien an Waschmaschinen, damit Menschen auch ihre Wäsche einigermaßen sauber halten können.
Das Konzept dieser Rückzugsorte soll den Menschen erlauben, zusammenzukommen und sich in der Situation auch austauschen zu können. Dass dieses Gefühl der Isolation - 'das, was ich jetzt gerade durchmache, was mir gerade passiert, betrifft nur mich' - auch überwunden werden kann und auch ein Wissen und eine Erfahrung entsteht: 'Ich bin damit nicht allein'.
Nachbeben lösen noch immer Traumata bei den Menschen aus
tagesschau.de: Was erzählen Ihnen die Menschen - wie geht es ihnen?
Bachmann: Man muss sich vor Augen halten, dass natürlich dramatische Ereignisse passiert sind. Es gibt nach wie vor sehr viele Nachbeben. Über 33.000 seit dem 6. Februar und allein 50 davon mit einer Stärke von über 5,0 auf der Richterskala. Das macht was mit den Menschen. Es löst jedes Mal ein Trauma aus. Ich sehe das auch bei meinen Kollegen und Kolleginnen von den lokalen Hilfsorganisationen, von denen viele selbst die Erdbeben erlebt haben.
Jedes stärkere Nachbeben ist auch wieder ein Moment enormer Anspannungen, enormen Stresses. Die Ungewissheit, wie es weitergehen soll, die Ungewissheit, wieder ein festes Dach über den Kopf zu bekommen. 'Wie kann ich mir das leisten? Wie kann sich die Familie das leisten? Gibt es wieder Arbeitsplätze? Gibt es wieder Arbeit für mich und damit ein Einkommen für die betroffenen Menschen?' Dieses Gefühl der Machtlosigkeit, der Ohnmacht, das erzeugt natürlich auch sehr starke Emotionen wie Wut, auch Trauer. Und teilweise triggert es auch Aggressionen.
Ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit unserer Psychologen und Psychologinnen in den Partnerorganisationen ist es, den Menschen zu vermitteln, dass ihre Reaktionen normal sind, dass ihre Reaktionen eigentlich den Umständen entsprechend gewöhnlich sind. Und sie geben ihnen Methoden an die Hand, wie sie mit diesen Emotionen umgehen können. Bewältigungsstrategien, wie sie damit besser umgehen können und natürlich auch Ihre Emotionen nicht auf die nächsten Menschen rund um sie lenken müssen.
Drei wichtige Säulen der Hilfe für die Menschen
tagesschau.de: Was brauchen diese Menschen jetzt besonders dringend?
Bachmann: Ärzte ohne Grenzen unterstützt lokale Partnerorganisationen in drei Säulen. Das ist erstens die psychologische Unterstützung und auch die psychosoziale Unterstützung von Menschen aller Altersgruppen. Das fängt an bei Kindern und geht bis zu älteren Menschen. Wir gehen mit mobilen Teams auf die Menschen zu und versorgen sie auch in entlegenen Bergdörfern mit psychologischer Unterstützung.
Die zweite wichtige Säule ist nach wie vor die Versorgung der Menschen mit ganz essenziellen Hilfsgütern. Nicht alle Menschen wurden gleichermaßen erreicht, es wurden auch bis jetzt noch nicht alle Menschen erreicht. Ich war vergangene Woche in einem Bergdorf, wo die Menschen sich bedankt haben und gesagt haben: 'Zum ersten Mal, seitdem die Erdbeben passiert sind, kommt jemand in unser Dorf und gibt uns Hygienematerialien, gibt uns Materialien zum Lagern von Trinkwasser und auch einiges an Kochgeschirr'.
Und die dritte, ganz wichtige Säule: Mit den steigenden Temperaturen, mit den sehr heißen Sommertemperaturen, die hier im Erdbebengebiet jetzt herrschen werden, ist die Versorgung mit sauberem und sicherem Trinkwasser, die Versorgung mit Hygienematerialien, mit Sanitäreinrichtungen, mit Duschmöglichkeiten wichtig, um unter anderem das mögliche Entstehen von Infektionskrankheiten und im schlimmsten Fall von Epidemien zu verhindern.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.