Berufe im Klimawandel Neue Herausforderungen für Hausärzte
Extreme Wetterwechsel und hohe Temperaturen machen vielen Menschen zu schaffen. Das merken auch Hausärzte: Patienten klagen häufiger über diffuse Beschwerden, manche zeigen sogar Anzeichen einer Psychose.
Das Wartezimmer der "Praxis am Osterberg" in Mommenheim bei Mainz ist hell mit viel Holz. Hier wartet ein junger Mann auf seinen Termin. Er ist zum ersten Mal hier - und ihm ist gleich die Klimaanlage aufgefallen: "Das kann ich mir angenehm vorstellen im Sommer", sagt er. Die ältere Frau neben ihm schätzte die Anlage schon in den vergangenen Jahren: "Man fühlt sich wohler, und es steht auch immer Wasser hier bereit. Das ist wichtig für mich im Alter."
Die Praxis gehört Hausärztin Verena Gall. Sie hat viele Ideen, wie sie ihre Patientinnen und Patienten bei zunehmender Hitze unterstützen kann. Dazu gehören auch gleichbleibende 26 Grad mithilfe der Klimaanlage, erklärt sie.
Ihr Schlüsselerlebnis: der Hitzesommer 2018. Da war sie mit ihren Zwillingen hochschwanger. Damals und auch nach der Entbindung fühlte sich plötzlich zu einer der sogenannten vulnerablen Gruppen zugehörig, erinnert sich die Medizinerin.
Das hat vieles verändert: Das Haus mit der Praxis hat Gall komplett neu dämmen lassen, aufs Dach kam eine Solaranlage, das Praxisauto ist ein E-Auto. Nicht alle Vermieter ziehen beim Umbau des Hauses mit, weiß sie. Sie jedoch ist Eigentümerin.
Andere Beschwerden in der Sprechstunde
Auch bei der Behandlung der Patientinnen und Patienten macht sie Dinge anders, beschreibt Gall. Gerade bei den besonders hitzeempfindlichen muss sie durch die steigenden Temperaturen besonders aufmerksam sein und die Medikamente stringent überprüfen: "Trotzdem wird die Steuerung gerade von diesen schwer herzkranken Patienten in der Hitzeperiode deutlich anspruchsvoller als bei moderaten Temperaturen."
Die Menschen kommen häufiger in die Praxis. Mit der Hitze nehme ein diffuses Unwohlsein zu, sagt die Hausärztin. Viele müssten weiterhin darauf hingewiesen werden, wie wichtig Abdunklung in der Wohnung und regelmäßiges Trinken ist. Besonders, wenn sie allein leben.
Außerdem seien im vergangenen Sommer manche Menschen psychisch auffällig geworden: "Die werden richtig psychotisch. Sie werden wahnhaft, haben selbstverletzendes und fremdaggressives Verhalten. Das war im vergangenen Jahr wirklich heftig."
Nicht nur die Patientinnen und Patienten leiden unter den Hitzeperioden, auch die Mitarbeitenden in der Praxis. Um grundsätzlich alle möglichst wenig den hohen Temperaturen auszusetzen, habe sich in der Praxis in Mommenheim die Video-Sprechstunde bewährt, erklärt die junge Ärztin.
Immer mehr Ärztinnen und Ärzte bieten auch Online-Sprechstunden an. Das erspart nicht nur die Anfahrt, sondern auch das Aufhalten in hohen Temperaturen.
Online-Angebote vor allem für Ältere interessant
Online-Angebote sind vor allem zum Besprechen von Ergebnissen oder Informationen geeignet. Eine ältere Patientin nutzt das sehr gerne: "Das ist natürlich angenehmer als bei 40 Grad noch mal durch die Gegend zu fahren. Und ich denke, für die Ärzte ist das genauso!"
Darüber hinaus bietet Gall abendliche Online-Veranstaltungen an. Wie zum Beispiel eine im Juni zum Thema "Wie wirkt sich Hitze auf die Gesundheit im Alter aus?"
Aber nicht nur die Hitze der Klimakrise sorgt für gesundheitliche Probleme. Auch bislang noch unbekannte Erreger. Die milden Winter lassen sie auch bei uns überleben. Noch seien die Folgen ein Dunkelfeld, erklärt Gall. Es gebe aber Anzeichen dafür, dass mittlerweile auch bisher nicht heimische Erreger für Virusinfekte verantwortlich sind.
Das könnte sich auf die Behandlung auswirken, ahnt die Ärztin. Sie lehrt an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und ist Mitglied im Verein KLUG, einer Allianz von Multiplikatoren aus Heil- und sozialen Berufen für Klimaschutz und Gesundheit.
Idee der „klimasensiblen Beratung“
Vor diesem Hintergrund bietet sie in ihrer Praxis eine sogenannte klimasensible Gesundheitsberatung an. Nachgefragt wird die jedoch bisher nicht. Dafür fehle noch das Bewusstsein, stellt Gall fest.
Sie gibt daher in ihren Regel-Sprechstunden Empfehlungen: zur pflanzenbasierten Ernährung bis hin zum Hinweis auf mehr Bewegung - ganz einfach, indem man das Auto stehen lässt. Im kleinen Ort Mommenheim könnten viele überschaubare Besorgungen auch zu Fuß erledigt werden - dann halt mit dem "Hackenporsche", sagt sie heiter.
"Hausärztlicherseits ist das Thema ja die Vorsorge, die Prävention. Und gerade klimasensibles Verhalten ist präventives Verhalten!" Die Medizinerin möchte Gesundheitskompetenz stärken. Für die Klimakrise bräuchten wir die unbedingt, ist sie überzeugt. Deswegen hat sie hinter der Praxis einen begehbaren Heilkräutergarten angelegt. Hier können Patientinnen und Patienten die Wartezeit überbrücken, entdecken und im besten Fall lernen, wie sie sich bei manchen Beschwerden schnell selbst helfen können.
Zusammen mit anderen Arztpraxen etwas verändern
Gerne würde Gall zu den Folgen der Klimakrise mit anderen Praxen zusammenarbeiten. Da gibt es auch schon Bewegung, so die Erfahrung der Medizinerin: "Aber ich kann noch nicht wahrnehmen, dass es wirklich eine Vernetzung gibt und alle an einem Strang ziehen, um da große Dinge vielleicht auch politisch zu bewegen."
Viele spüren in ihren Praxen aber schon, dass sich die Arbeitsbedingungen unter den hohen Temperaturen verschlechtern.