Oberster Gerichtshof der USA Und jetzt ans Wahlrecht?
Selten stand der Oberste Gerichtshof der USA so unter Beobachtung wie derzeit. Rechte Republikaner hoffen, dass er ein weiteres weitreichendes Urteil fällt, das die gesamte Demokratie in den USA betreffen könnte.
Ein Satz ist seit Anfang Juli immer wieder zu hören in den USA: Der Oberste Gerichtshof sei außer Kontrolle. Es sind Anhänger der US-Demokraten, die warnen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten sei in Gefahr.
Im Interview mit dem Radiosender NPR spricht Jura-Professorin Melissa Murray von einer der extremsten Sitzungsperioden in der Geschichte des Gerichtes: "Die Konservativen haben eine ausreichend große Mehrheit und sie scheinen bereit, Dinge zu überdenken, die wir bereits für geklärt hielten."
Das Erbe Trumps
Die Kritiker reagieren damit auf die jüngsten Urteile des Gerichts. Ob Abtreibung, Waffenrecht oder Auflagen für Umweltschutz - die rechts-konservativen Richter am Supreme Court setzten sich mit ihrer Mehrheit durch. Sie bescherten dabei den US-Republikanern Erfolg in strittigen Themen. US-Präsident Joe Biden sprach von einem unverschämten Verhalten.
Die Richter hoben in einem Fall sogar eine frühere Grundsatzentscheidung auf: So hatte das Gericht 50 Jahre lang garantiert, dass Frauen in den USA der legale Weg zu einer Abtreibung offen steht. Jetzt regeln Gesetze der Bundesstaaten wieder, ob Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind oder nahezu vollständig verboten werden.
Die Mehrheit denkt anders
In Umfragen erklärte eine Mehrheit der befragten Amerikaner, sie halten die Entscheidung des Gerichts zur Abtreibung für falsch. Ähnlich umstritten sind in der Öffentlichkeit die Urteile zu Waffenrecht und Umweltschutz. Dementsprechend emotional wird die Debatte geführt.
Das ist der Grund, warum ein neuer Fall schon jetzt für Schlagzeilen sorgt, der frühestens im Herbst zur Anhörung kommt. Allein, dass die konservativen Richter am Obersten Gerichtshof die Kläger anhören wollen gilt einigen Juristen und Kommentatoren in den USA schon als Beleg dafür, wohin die Reise geht.
Im Kern geht es um die Frage, ob Abgeordnete der Bundesstaaten allein über das Wahlrecht entscheiden dürfen, ohne die Möglichkeit des Einspruchs von Gerichten oder Gouverneuren. Oder, wie es Murray formuliert: "Haben Gerichte in Bundesstaaten das Recht, Grenzen zu setzen bei Gesetzen, die Wähler abschrecken, ihre Stimme abzugeben, wie zum Beispiel der Zuschnitt von Wahlkreisen nach Wählerregistrierung."
Ein Urteil hätte Folgen für Kongresswahlen, womöglich aber auch für Präsidentschaftswahlen und die gesamte Demokratie in den Vereinigten Staaten, fürchten einige Juristen.
Ein gängiger Vorgang - und seine besondere Form
Anlass ist ein Streit in North Carolina. Dort hatten die republikanischen Abgeordneten mit ihrer Mehrheit im Parlament die Wahlkreise für die Kongresswahlen neu zugeschnitten, ein normaler Vorgang alle zehn Jahre.
Doch die Abgeordneten verabschiedeten einen Zuschnitt, der schon vor der eigentlichen Wahl sicherstellen sollte, dass zehn der 14 Wahlkreise an die Republikaner gehen. Obwohl die Stimmen der Wähler im gesamten Bundesstaat nahezu gleich verteilt sind zwischen Republikanern und Demokraten.
Das Oberste Gericht von North Carolina wies den Versuch als verfassungswidrig zurück. In anderen Bundesstaaten war es US-Demokraten bei ähnlichen Versuchen so ergangen.
Doch die Republikaner aus North Carolina klagten vor dem Obersten Gerichtshof. Sie sind der Meinung, dass Abgeordnete über die alleinige und unabhängige Autorität verfügen, Regeln für Wahlen festzulegen. Sie berufen sich auf die Verfassung.
US-Wähler sind inzwischen daran gewöhnt, dass nach Wahlen länger nachgezählt wird. Aber wie Wahlkreise zugeschnitten werden, ist zunehmend umkämpft.
Nachwirkungen der Präsidentschaftswahl
Diese Theorie rechter Juristen von der "independent state legislature" hatten Republikaner in mehreren Bundesstaaten schon nach der letzten Präsidentschaftswahl verfolgt. Sie überlegten, die Wahlniederlage ihres Kandidaten, des abgewählten Präsidenten Donald Trump, nicht zu akzeptieren.
Sie rangen mit dem Gedanken, im Recht zu sein, eine eigene Liste von Wahlmännern und Wahlfreuen aufzustellen, unabhängig vom Ergebnis der Auszählung der abgegebenen Stimmen.
Verfassungsrechtler Vikram Amar von der Universität von Illinois bereitet diese Argumentation im Gespräch mit NPR Sorge: "Wenn Wähler eines Bundesstaates die Wahlmänner und Wahlfrauen für die Wahlversammlung bestimmen, dann ist das sehr gefährlich, wenn Abgeordnete die Entscheidung missachten können und selbst wählen. Das hat nichts mit verfassungsmäßiger Demokratie zu tun, wie ich sie verstehe."
Nachteile marginalisierter Gruppen
Dürfen sie das? Lässt die US-Verfassung das zu? Das wäre endgültig das Ende des demokratischen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten, einem Land, in dem es für marginalisierte Bevölkerungsgruppen häufig jetzt schon schwer ist, ihre Stimme bei Wahlen abzugeben.
Die Klage aus North Carolina vor dem Obersten Gerichtshof geht nicht so weit. Das Gericht in Washington D.C. würde auch erst nach der kommenden Kongresswahl entscheiden. Aber die vergangenen Wochen haben die Anhänger der US-Demokraten in Alarmstimmung versetzt.
Washingtons Macht gestutzt
In zwei Urteilen hatte das Oberste Gericht die Entscheidungsgewalt an die Abgeordneten, die Legislative, zurückverwiesen. Im Fall von Abtreibungen sind entgegen der bisher etablierten Rechtsprechung jetzt die Parlamente in den Bundesstaaten wieder zuständig. Und im Umweltschutz können nach Auffassung der konservativen Richter Fragen von großer Tragweite, wie zum Beispiel eine Abkehr von fossilen Brennstoffen, nicht vom US-Kongress getroffen werden.
Sollte die rechts-konservative Mehrheit am Gericht dieser Linie weiter folgen, könnte sie, so die Sorgen einiger Juristen, den Abgeordneten unter Berufung auf die Verfassung uneingeschränkte Autorität in Fragen des Wahlrechts einräumen. Wer immer an der Macht ist, könnte dann noch rücksichtsloser Wahlkreise mit dem Ziel des Machterhalt zuschneiden. Und die nächste Präsidentenwahl hätte endgültig das Potenzial für eine Verfassungskrise.