
Prozess zum Messerangriff in Mannheim "Wir sind da, weil Rouven nicht da ist"
In Stuttgart hat der Prozess zum Attentat auf dem Mannheimer Marktplatz begonnen, bei dem der Polizist Rouven Laur getötet wurde. Für die anwesenden Familienmitglieder ist es ein aufwühlender Auftakt.
Stuttgart-Stammheim am frühen Morgen. Vor dem Hochsicherheits-Gerichtssaal gleich neben dem Gefängnis schneit es unaufhörlich. Gegen 8.30 Uhr beginnt der Einlass mit intensiver Sicherheitskontrolle. Das Interesse ist groß bei Medien und Publikum, der Prozessbeginn verzögert sich etwas.
Gegen 10.15 Uhr kommt die Familie des getöteten Polizisten Rouven Laur in den Gerichtssaal. Seine Mutter und die beiden Schwestern nehmen Platz. Auch der Bürgermeister von Neckarbischofsheim, dem Herkunftsort von Laur, sitzt im Publikum. Er kennt die Familie gut.
Anklage wird verlesen
Der Angeklagte wird einige Zeit später in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Sulaiman A. war 2013 als unbegleiteter jugendlicher Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Inzwischen ist er mit einer Deutsch-Türkin verheiratet und hat einen dauerhaften Aufenthaltstitel.
Oft ist ein erster Prozesstag von vielen Anträgen der Verteidigung geprägt. Heute ist das anders. Zügig kommt es zur Verlesung der Anklage. Die Vertreterin des Generalbundesanwalts, Verena Bauer, fasst die Vorwürfe und den Ablauf auf dem Mannheimer Marktplatz und die mutmaßlichen Hintergründe minutiös zusammen.
Sympathien für die Ideologie des IS
Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan habe er 2021 begonnen, sich für deren Ideologie zu interessieren. Durch Beiträge von radikal-islamischen Gelehrten auf Telegram habe er Sympathien für die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) entwickelt und deren Ideologie seit Anfang 2023 geteilt.
Schließlich sei er überzeugt gewesen, dass es seine religiöse Pflicht sei, vermeintliche Ungläubige in Deutschland zu töten. Er habe deswegen einen Anschlag auf Menschen geplant, die er als Feinde des Islam wahrnahm.
Messerangriff auf dem Mannheimer Marktplatz
Auf dem Mannheimer Marktplatz sei es am 31. Mai 2024 von Anfang an sein Ziel gewesen, möglichst viele Mitglieder der islamkritischen Vereinigung "Bürgerbewegung Pax Europa" (BPE) zu töten, die dort eine Kundgebung abhielten; außerdem habe er Polizeibeamte als Repräsentanten der Bundesrepublik töten wollen.
Um 11.35 Uhr stach er unvermittelt in kurzen Abständen auf mehrere Menschen rund um den Stand der BPE ein und verletzte sie schwer. Hauptkommissar Rouven Laur war in der unübersichtlichen Situation zu Hilfe geeilt. Von hinten stach A. ihm mit seinem Jagdmesser mit einer 18 Zentimeter langen Klinge zunächst ins Schulterblatt. Kurz danach rammte A. dem Polizisten das Messer im Bereich des linken Ohrs heftig in den Kopf. Trotz sofortiger Notoperation starb Laur einige Tage später an einem Schädel-Hirn-Trauma.
Schwierige Stunden für die Familie
Tief bewegt verfolgt die Familie von Rouven Laur die detaillierte Schilderung der Tat. Rechtsanwalt Wolfram Schädler, einer ihrer Vertreter als Nebenkläger, hatte am Morgen dem SWR gesagt: "Jetzt, wo der Prozess beginnt, wird die Untat natürlich wieder bei der Familie sehr präsent." Sie seien heute aber bewusst zum Prozessbeginn vor Ort im Gerichtssaal. Die Mutter habe gesagt: "Wir sind da, weil Rouven nicht da ist."
Vorwurf Mord und fünffacher versuchter Mord
Rechtlich lautet der Vorwurf der Anklage: Mord an Rouven Laur und fünffacher versuchter Mord an den Menschen, die schwer verletzt wurden, aber überlebt haben. Sollte das Gericht ihn am Ende des Prozesses wegen dieser Vorwürfe schuldig sprechen, sieht das Gesetz dafür lebenslange Haft vor.
Nicht angeklagt ist A. allerdings wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" oder deren Unterstützung. Die Ermittler sehen zwar einen klaren Bezug zur Ideologie des IS. Eine Einbindung in die Struktur der Terrororganisation sehen die Ankläger aber bislang nicht. Weitere Hintermänner habe es nicht gegeben.
Angeklagter will nicht zur Sache aussagen
Zu Beginn des Prozesses äußert sich der Angeklagte auf Deutsch kurz zu seinen persönlichen Daten wie Geburtstag, Geburtsort und Familienstand. Zu seinen persönlichen Verhältnissen werde sich Sulaiman A. im Gerichtssaal demnächst äußern, sagen seine Verteidiger später. Zu den Vorwürfen in der Sache aber nicht. Über sein Recht zu schweigen hatte der Vorsitzende Richter ihn bereits belehrt.
"Dieses Verfahren wird emotionale Momente mit sich bringen"
Als die Anklage verlesen ist, folgen einige einführende Sätze des Vorsitzenden Richters Herbert Anderer, die durchaus bemerkenswert sind. "Dieses Verfahren wird emotionale Momente mit sich bringen, für die Beteiligten, aber auch für uns", sagt er. "Wir werden Ihnen Möglichkeit geben, Emotionen zu zeigen, bitte geben sie uns die auch."
Solche Sätze hört man nicht oft von einem Richter. Im viele Jahre dauernden NSU-Prozess, in dem das Leid der Opferfamilien ebenfalls eine große Rolle spielte, waren solche Worte von der Richterbank überhaupt nicht zu vernehmen.
Beweisaufnahme über das Tatvideo hinaus
Emotionale Momente könnte es zum Beispiel geben, wenn das Video vom Tatablauf im Gerichtssaal für alle Beteiligten gezeigt wird. Dass so ein Video von der Staatsanwaltschaft übermittelt werde, sei äußerst selten, so Richter Anderer. Und falls sich jemand nun die Frage stellen sollte, wofür man trotz des Videos noch einen ausführlichen Strafprozess brauche, ergänzt er: Es sei Aufgabe des Gerichts, sämtliche relevanten Erkenntnisse zusammenzutragen. Das werde man tun. Mit Akribie und nach Recht und Gesetz.
Er warnt aber auch vor überhöhten Erwartungen an den Prozess. Das Gericht werde die individuelle Schuld des Angeklagten klären. Das Verfahren sei aber kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. "Wir sind Teil der dritten Gewalt, also der Justiz, nicht weniger, aber auch nicht mehr." Rund 50 Verhandlungstage hat das Gericht bis in den Herbst angesetzt.