Weltbevölkerungstag "Wir werden völlig neu denken müssen"
Mehr Menschen, mehr Wachstum - diese Gleichung geht in Deutschland schon lange nicht mehr auf. Der Sozialwissenschaftler Steffen Kröhnert sieht darin eine Herausforderung von historischer Dimension. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, wie die Folgen gemildert und gestaltet werden können.
tagesschau.de: Die Deutschen werden weniger und älter, was die Politik immer als "Herausforderung" beschreibt. Wie groß ist diese Herausforderung?
Steffen Kröhnert: Es ist eine Herausforderung von historischer Dimension, denn die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird bis 2050 um etwa 30 Prozent abnehmen. Bislang war es immer so, dass Wirtschafts- und Wohlstandswachstum mit einer steigenden Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter verbunden waren. Von daher sehen wir uns mit einer Frage konfrontiert, die noch nie gestellt und nie beantwortet wurde: Wie können wir unsere Wirtschaftskraft und unseren Wohlstand sichern, wenn bei einer steigenden Zahl von Rentnern die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter kontinuierlich und stark abnimmt? Das ist eine ganz große Herausforderung.
tagesschau.de: Ist es auch eine Katastrophe?
Kröhnert: Als Katastrophe würde ich es nicht bezeichnen. Wir werden uns nur von vielem verabschieden müssen, unter anderem von der Idee des unbegrenzten Wohlstandswachstums. Und wir werden völlig neu denken müssen, was Alters- und Gesundheitsvorsorge oder die Infrastruktur im dünn besiedelten ländlichen Raum angeht. Wir werden aber auch positive Effekte erleben, wie einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Junge Menschen und qualifizierte Arbeitnehmer werden zunehmend von den Unternehmern umworben.
tagesschau.de: Warum haben wir in den vergangenen Jahren ziemlich wenig davon gespürt, dass immer weniger Kinder geboren wurden?
Kröhnert: Wir haben davon wenig gemerkt, weil wir im Prinzip davon wirtschaftlich profitiert haben. Kinder, ihre Erziehung und Ausbildung, kosten ja Geld. Um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung konstant zu halten, wären - statistisch gesehen - 2,1 Kinder je Frau nötig gewesen. Alle Kinder, die seit den 1970er-Jahren weniger geboren wurden, mussten weder erzogen noch ausgebildet werden. Dieses Geld konnten von den Babyboomern, den Menschen im mittleren Alter, verkonsumiert werden. Letztlich haben weniger Kinder zu unserem individuell größeren Wohlstand beigetragen.
"Kreativer Umgang" als politische Aufgabe
tagesschau.de: Lässt sich der deutsche Schrumpfungsprozess durch politische Maßnahmen aufhalten oder gar umkehren?
Kröhnert: Der Prozess lässt sich weder umkehren noch stoppen. Er lässt sich jedoch mildern, was den quantitativen Effekt betrifft. Etwa, indem man bisher wenig beteiligte Gruppen stärker in den Arbeitsmarkt einbezieht. Die Erwerbstätigkeit von Frauen oder die Zuwanderung gut qualifizierter Menschen aus dem Ausland fördert. Man kann auch eine modernere Familienpolitik betreiben, die langfristig zu einem Anstieg der Geburtenrate führt.
Die Politik ist aber vor allem gefordert, was den kreativen Umgang mit den qualitativen Auswirkungen angeht. Sie muss die gesellschaftlichen Systeme so verändern und einstellen, dass sie mit der demografischen Alterung umgehen können. Beispielsweise weg von der Idee einer Vollversorgung aller Hochbetagten in Pflegeheimen und hin zu mehr ambulanten Systemen und zu gemeinschaftlichen Wohnformen mit gegenseitiger Betreuung.
tagesschau.de: Wäre es also sinnvoller, Milliarden in den Ausbau ambulanter Pflegeplätze zu stecken als ins Elterngeld?
Kröhnert: Ich halte das Elterngeld für eine vernünftige Investition in zukünftige Generationen. Für eine moderne Gesellschaft ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine absolute Notwendigkeit. Eine mögliche Wirkung auf die Kinderzahl je Frau in ganz Deutschland kann sich nur langfristig einstellen - wenn Familienfreundlichkeit auf allen Ebenen verbessert wird. Wenn man sparen will, dann könnte man das eher bei der Höhe des Kindergelds tun, das nachgewiesenermaßen keine geburtenfördernde Wirkung hat.
Städte und Metropolen bleiben jung
tagesschau.de: Welche regionalen Unterschiede gibt es?
Kröhnert: Die Steigerung des Durchschnittsalters müssen alle Regionen verkraften, aber in unterschiedlichem Ausmaß. Wir sehen einen deutlichen Trend der Jüngeren in die Städte hinein, was die Städte im Vergleich zu den ländlichen Regionen jung hält. Vor allem die westdeutschen Metropolregionen bleiben mindestens stabil, wenn sie nicht sogar weiter wachsen. Im Osten wachsen die Großstädte. Weit ins Umland ausstrahlen kann deren Boom allerdings nicht. Fast überall gilt: Je weiter von großstädtischen Zentren entfernt, umso schwieriger die demografische Entwicklung und umso stärker die Alterung. Allein die Zahl der Schulschließungen in Ostdeutschland spricht eine dramatische Sprache. Dort hat sich die Zahl der Kinder nach 1990 halbiert.
tagesschau.de: Wie stellen wir uns am besten auf die älter und kleiner werdende Gesellschaft ein? Wo ist das schon gut gelungen?
Kröhnert: Immer mehr Bauprojekte berücksichtigen die Wohnsituation von Älteren. Das hat sich zu einem boomenden Markt entwickelt. Die ländlichen Regionen haben noch erheblichen Entwicklungsbedarf hinsichtlich der Daseinsvorsorge unter Schrumpfungsbedingungen: Wie die medizinische Versorgung, die Mobilität, die sozialen Kontakte aufrechterhalten? Da muss man experimentieren, und es werden auch soziale Innovationen vonnöten sein.
Mancherorts werden vielleicht die Gemeindeschwester oder die mobile Zahnärztin, wie es sie in Brandenburg bereits gibt, einen Großteil der medizinischen Versorgung übernehmen müssen, weil sich kein niedergelassener Arzt mehr findet. Ich sehe aber das Potenzial solcher sozialen Innovationen. Sie können dafür sorgen, dass die Lebensqualität auf dem Land nicht in gleichem Maße sinkt, wie das Durchschnittsalter ansteigt.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de