Interview

Interview nach den Landtagswahlen "Regierungsbildung wird zum Lotteriespiel"

Stand: 31.08.2009 09:42 Uhr

Eines haben die Landtagswahlen gezeigt, meint Politikwissenschaftler Lösche im tagesschau.de-Interview: "Die traditionelle Sicherheit von Regierungsbildungen ist futsch." Bei Koalitionsverhandlungen im Fünf-Parteien-System werde deshalb künftig "mit einer Raffinesse taktiert werden, wie wir das bisher nicht kannten".

tagesschau.de: Herr Lösche, was sagen uns die Ergebnisse der Landtagswahlen gestern über die Bundestagswahl in vier Wochen?

Lösche: Sie haben relativ geringe Signalwirkung. Die regionalen Bedingungen haben eindeutig dominiert. Man kann die Ergebnisse nicht einfach auf die Bundesebene übertragen.

tagesschau.de: Wofür hat der Wähler die CDU bestraft?

Lösche: Die CDU hat bei den Landtagswahlen vor fünf Jahren große Wahlsiege errungen, weil der Höhepunkt der Anti-Agenda-2010-Bewegung gerade erreicht war. Die CDU ist abgesackt in Thüringen, aber auch im Saarland, weil sie weder deutlich machen konnte, dass sie die soziale Kompetenz hat, noch die Wirtschaftskompetenz. Das spielte besonders in Thüringen eine große Rolle. Die Kompetenz der CDU in ihren traditionellen Bereichen wie der Wirtschaftspolitik steht in Frage.

"Wirtschaftskompetenz ist der entscheidende Punkt"

tagesschau.de: Nicht aber in Sachsen.

Lösche: Ministerpräsident Tillich ist die Wirtschaftskompetenz zugeschrieben worden, trotz der großen Probleme mit der SachsenLB. Wirtschaftskompetenz ist der entscheidende Punkt: Althaus in Thüringen hat sie verloren, während Tillich sie bewahren konnte.

Zur Person
Peter Lösche war von 1973 bis 2007 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Er wurde vor allem durch seine Arbeit auf dem Gebiet der Parteienforschung bekannt. Seit 1957 ist er SPD-Mitglied und setzt sich in seiner Forschung kritisch mit seiner Partei auseinander.

tagesschau.de: Also wählt das Volk doch nach Themen und nicht nach Köpfen?

Lösche: Es ist eine Mischung. Erstens ist es ein Personenwahlkampf, siehe Lafontaine im Saarland. Vor allen Dingen aber ist es ein Wahlkampf um Wirtschaftskompetenz und um die Kompetenz in der Sozialpolitik. Hinzu kommt ein dritter Faktor: Einige identifizieren sich mit bestimmten Parteien.

"Die SPD hat kein Profil"

tagesschau.de: Was wollte der Wähler der SPD sagen?

Lösche: Es ist ganz deutlich, dass sie keine Konkurrenz für die CDU in der Wirtschaftskompetenz gewesen ist, außer in Thüringen. Und dass die Linkspartei eine echte Konkurrenz in Fragen der sozialen Gerechtigkeit ist. Die SPD hat kein eindeutiges Profil, das eine Sogwirkung entwickelt, so dass enttäuschte Wähler wieder zu ihr zurückkehren.

tagesschau.de: Rot-Rot-Grün sind nun Koalitionsoptionen im Saarland und in Thüringen. Was bedeutet das für die SPD: ein Erfolg oder die Neuauflage des alten Traumas Lafontaine?

Lösche: Es ist für sie die Chance, wieder an einer Regierung mitzuwirken und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu ändern. Aber es wird für sie immer komplizierter, Koalitionen zu schließen. Regierungsbildung wird fast zum Lotteriespiel. Die Lager sind in Auflösung begriffen. Wir werden das in den kommenden Wochen sehen, vor allem im Saarland: Es wird taktiert werden mit einer Raffinesse, es wird ein Machtpoker ablaufen, wie wir das bisher nicht kannten.

Die traditionelle Sicherheit von Regierungsbildungen, wie wir sie aus den 60er-, 70er- und 80er-Jahren kennen, ist futsch. Damals konnte man sich klar entscheiden zwischen einer eher konservativen und einer eher  sozialliberalen Regierung. Es gab zwei große Parteien und dazwischen die FDP. Diese Entscheidung des Wählers beim Wählen über eine Regierungsmehrheit findet heute nicht mehr statt. Für die Parteien selbst ist das ganze Parteiensystem extrem kompliziert geworden. Es wird relativ lange dauern, bis die Regierungen in Thüringen und dem Saarland stehen. Auch die Union wird sich der Linkspartei öffnen müssen, weil sie auf kommunaler Ebene bereits mit ihr zusammenarbeitet. Das ist aber noch ein sehr weiter Weg.

Der "Oskar-Faktor"

tagesschau.de: Bedeutet das Ende der Lager das Ende der Beliebigkeit von Parteiprogrammen – oder wird es noch schlimmer, weil jeder mit jedem können muss?

Lösche: Die Parteien müssen ein unverwechselbares Profil entwickeln, vor allem die SPD. Sie muss es schaffen, sich von der Linkspartei abzugrenzen, aber auch von der sozialdemokratisierten Union. Im Moment sind für viele Wähler gerade die Parteien der Großen Koalition verwechselbar.

tagesschau.de: Wie erklärt sich das Ergebnis der Linkspartei im Saarland? Mit dem "Oskar-Faktor"?

Lösche: Mit ihm und mit dem Protest des Wählers gegen eine SPD, die die Agenda 2010 und die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre durchgesetzt hat. Die SPD wird nicht mehr als Partei der sozialen Gerechtigkeit gesehen. Dieses Image ist zur Linkspartei gewandert.

tagesschau.de: Aber auch ehemalige Unionswähler haben gestern ihr Kreuz bei der Linkspartei gemacht.

Lösche: Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, macht das durchaus Sinn. Die CDU hat zum Beispiel bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2005 ganz stark Arbeiter angezogen. Die konnte sie aber nicht an sich binden. Und genau das zeigt sich jetzt: Dass Arbeiter, die die CDU bei der letzten Landtagswahl gewählt haben, nun hinüber zur Linkspartei gewandert sind.

Auf dem Weg zum Sechs-Parteien-System?

tagesschau.de: Die NPD hat den Wiedereinzug in den sächsischen Landtag geschafft. Wie lässt sich das erklären?

Lösche: Die NPD hat in einigen Teilen Sachsens Wurzeln gefasst, gerade auf dem flachen Land. Wir wissen, dass bundesweit ein rechtsextremistisches Wählerpotenzial von 10 bis 15 Prozent vorhanden ist. Dieses Potenzial ist nicht nur in Sachsen wieder realisiert worden: In Thüringen ist die NPD ja nur relativ knapp gescheitert. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir eventuell auf dem Weg sind von einem Fünf-Parteien-System zu einem Sechs-Parteien-System.

Das Gespräch führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.