Atomstrom in Frankreich Wie EDF vom grünen EU-Label profitiert
Dass die EU Investitionen in Kernenergie als nachhaltig einstufen will, ist ganz im Sinne Frankreichs. Es nutzt vor allem dem französischen Staatskonzern und Atomstrom-Produzenten EDF.
Die Atomindustrie beschäftigt in Frankreich etwa 200.000 Menschen und ist damit die drittgrößte Branche im Land. Knapp 70 Prozent des Stroms werden nuklear produziert. Auch in Zukunft soll die Kernenergie eine tragende Säule im Energiemix Frankreichs bleiben. Nur so könne man die Klimaziele erreichen, erklärte Präsident Emmanuel Macron im Oktober vergangenen Jahres.
Er kündigte an, neue Druckwasserreaktoren in Frankreich bauen zu lassen. Zusätzlich will er eine Milliarde Euro in die Entwicklung von neuartigen kleinen, sogenannten "Small Modular Reactors" investieren. Konzipieren und bauen soll sie allesamt der Konzern Électricité de France (EDF), der zu 84 Prozent dem französischen Staat gehört.
EDF-Chef preist Vorzüge der Atomenergie
"Wir sind gelassen, wir haben niemals an der Zukunft der Kernenergie gezweifelt", sagte Xavier Ursat im November im Radiosender Europe 1. Er ist bei EDF Leiter der Abteilung für Engineering und nukleare Neubauprojekte. "Wir erklären seit Jahren, dass die Kernenergie absolut notwendig ist, um weniger CO2-Ausstoß in der Atmosphäre zu haben. Der geringe CO2-Ausstoß der Atomkraftwerke ist ein Trumpf im Kampf gegen den Klimawandel."
EDF ist der größte Atomstromanbieter weltweit, betreibt Kraftwerke in England, baut in Finnland, hat in Polen, Italien und Indien Angebote vorgelegt. Doch das Unternehmen steckt in der Krise. Denn die insgesamt 56 Reaktoren in Frankreich sind im Schnitt mehr als 35 Jahre alt, allein sieben Reaktoren sind bereits heute mehr als 40 Jahre in Betrieb.
Importbedarf wegen Störanfälligkeit
Das Alter erhöhe die Störanfälligkeit - mit fatalen Folgen, so Mycle Schneider, Atomenergiekritiker und Herausgeber des "World Nuclear Industry Status Reports". Im Winter habe etwa ein Drittel der Atomkraftwerke nicht zur Verfügung gestanden. Am 22. Dezember 2021 habe Frankreich Strom aus allen umliegenden Ländern importieren müssen. "Bis zu einer Gesamtkapazität von 13 Gigawatt. Also eigentlich eine katastrophale Gesamtsituation", sagt Schneider.
Immer mehr EDF-Meiler in Frankreich fallen für aufwendige Wartungen wochen- oder monatelang aus. Die Nationale Sicherheitsagentur für Kernenergie ASN forderte jüngst einen "Marshall-Plan" für Frankreichs Meiler. Zuletzt ist an einem der Reaktoren ein Korrosionsproblem aufgetreten, das in mehreren Kraftwerken der gleichen Baureihe auftauchen und zu gefährlichen Sicherheitsproblemen führen könnte.
Prestigeprojekt mit jahrelanger Verzögerung
Die alten Reaktoren stehen also immer häufiger still. Stromknappheit droht, und das jüngste Prestigeprojekt - der Druckwasserreaktor in Flamanville in der Normandie - ist immer noch nicht am Netz. 2012 sollte er in Betrieb gehen, nun - zehn Jahre später - musste EDF den Start erneut verschieben. Statt der geplanten 3,3 Milliarden Euro wird das Kraftwerk voraussichtlich 19 Milliarden Euro kosten.
Was als Demonstration französischer Kompetenz gedacht war, ist zur Demonstration von Inkompetenz geworden. Statt Exportschlager - Ladenhüter. "Das ist wirklich ein Kartenhaus geworden", sagt Schneider. "Von allen Richtungen, von allen Bauteilen dieses Systems gibt es kritische Probleme."
Konzern ist hoch verschuldet
Hinzu kommt die desaströse finanzielle Lage des Konzerns: EDF hat Nettoschulden in Höhe von 42 Milliarden Euro plus Zinsen. Die französische Regierung deckelt angesichts der hohen Energiekosten den Strompreis, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schonen. Das aber lässt den Konzern noch schlechter dastehen. Die Rating Agentur Fitch geht von einem so hohen Kreditausfallrisiko aus, dass sie ihre Bewertung Mitte Januar von A- auf BBB+ absenkte.
Frankreich will grünes Label als Hebel nutzen
Deshalb ist der Taxonomie-Vorschlag der EU-Kommission für den Elysée Gold wert und genau das, worauf die Regierung mit aller Macht hingewirkt hat. Auch der Franzose Thierry Breton, EU-Binnenmarkt-Kommissar, versicherte schon im vergangenen Jahr: "Kein Green Deal ohne Atom". Breton steht der Nuklearbranche nahe und soll 2014 als möglicher EDF-Chef gehandelt worden sein.
Das grüne Label für die Kernenergie als ökologische Übergangstechnologie wird - so die Hoffnung in Paris - Privatinvestoren anziehen. Und er werde weitere Türen öffnen, erklärt Nicolas Goldberg, Energiefachmann bei der Unternehmensberatung Columbus Consulting mit Sitz in Paris und Lausanne. "Das eigentliche Ziel Frankreichs war es, diese Taxonomie-Entscheidung als Hebel zu benutzen. Als Hebel für eine Angleichung der Wettbewerbsregeln in Brüssel", sagt Goldberg. "Denn wenn demnächst private Investitionen in den Neubau von AKW grün gelabelt werden, warum soll dann nicht auch der Staat in den Neubau investieren dürfen? Es ging also immer um das Ziel, die Wettbewerbsregeln am Ende den Taxonomie-Regeln anzugleichen."
Wiederaufbaufonds als mögliche Geldquelle
Grüne Europa-Abgeordnete fürchten gar, dass Frankreich und andere EU-Mitgliedsländer für ihre Atomenergieprojekte auch direkt Zuschüsse aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds bekommen könnten. Doch aus dem Umfeld der französischen Umweltministerin heißt es auf Anfrage des ARD-Studios Paris, man habe keinesfalls die Absicht, Gelder aus dem Wiederaufbaufonds zu mobilisieren. Alles werde aus französischen Geldquellen bezahlt.
Bemerkenswert ist jedoch, dass der Zuschnitt des Taxonomie-Entwurfs ziemlich genau auf die französischen Bedürfnisse passt. "Ich muss sagen, dass ich höchst überrascht war, in dem Entwurf nicht nur Neubau von Atomkraftwerken zu finden, sondern dass der Taxonomie-Rahmen eben auch erlauben würde, diese alten Meiler nachzurüsten", sagt der Atomenergiekritiker Schneider.
Und das ist dringend nötig. Denn neue Reaktoren werden frühestens im Jahr 2039 Strom liefern. Der Atomstromproduzent EDF hofft deshalb, die auf 40 Jahre Laufzeit ausgelegten Reaktoren durch Nachrüstungen 50 oder gar 60 Jahre lang am Netz lassen zu können. Der Taxonomie-Rahmen ermöglicht es nun, alle dafür nötigen Arbeiten, die bis 2040 genehmigt werden, für private Investoren grün zu labeln. So könnten Frankreich und EDF ihre alte AKW-Flotte doch noch flott kriegen.