Mangelnde Kompetenz Leselücken erschweren politische Teilhabe
Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen. Ihnen fällt es schwer, politische Positionen oder Fake News zu hinterfragen - und es wirkt sich auf ihr Wahlverhalten aus.
Lesen ist eine Kernkompetenz für Bildung, Beruf und gesellschaftliche Beteiligung. Aber 6,2 Millionen aller deutschsprachigen Erwachsenen können nur eingeschränkt lesen und schreiben. Das ist ein Achtel aller Menschen im erwerbstätigen Alter. Dabei kämpfen 300.000 von ihnen schon mit einzelnen Buchstaben; der Rest kann einzelne Worte oder Sätze bewältigen.
Politische Kompetenzen beeinträchtigt
Diese mangelnde Lesekompetenz erschwert es ihnen, politische Argumente zu hinterfragen und einzuordnen. Das zeigten kürzlich Untersuchungen der Bildungsforscher Helmut Bremer von der Universität Duisburg-Essen und Gregor Dutz von der Universität Hamburg. Erwachsene mit schlechten Lesekenntnissen gehen auch seltener wählen und haben weniger Vertrauen in ihre politischen Kompetenzen. Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt engagieren sie sich zudem nicht so oft in Vereinen oder im Ehrenamt.
Die Ergebnisse basieren auf den Daten der letzten deutschlandweiten Lesestudie bei Erwachsenen, der Level-One Studie (LEO) 2018. "Wo wir wirklich ganz große statistische Abweichungen sehen, ist das Beurteilen von Sachverhalten", so Studienleiterin Anke Grotlüschen, Professorin für lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg.
Die Studie enthielt zum Beispiel die Frage, ob man sich die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an einer Demonstration zutraue. 80 Prozent der normal lesenden Menschen fühlten sich kompetent genug, dies zu entscheiden - im Gegensatz zu nur 50 Prozent der Befragten mit eingeschränkter Lesekompetenz.
Leseprobleme erschweren das Hinterfragen
Diese Unsicherheit erschwere es den Menschen, politische Argumente zu hinterfragen und auch Fake News zu erkennen, so die Forscherin: "Wenn Menschen an Ratgeber kommen, die tendenziell esoterisch oder einseitig sind, dann haben sie einfach kein Rüstzeug, sich davon abzugrenzen, also sich ihre eigene Position dazu zu bilden. Sondern sie folgen dem dann viel leichter."
Seit 2018 sind keine weiteren Studien zum Ausmaß des Leseproblems unter Erwachsenen durchgeführt worden. In den Vorjahren hatte sich der Anteil der "gering literalisierten" Menschen verringert: 2010 waren es noch 7,5 Millionen.
Viertklässler verfehlen Mindeststandards
Sicher ist, dass sich gleichzeitig die Lesekompetenzen von Kindern in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert haben. In der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2021 verfehlte ein Viertel aller Viertklässlerinnen und -klässler in Deutschland die Mindeststandards im Lesen und der Rechtschreibung. Eine zunehmend gemischte Gesellschaft sei einer der Hauptgründe, so die Autorinnen und Autoren der Studie - aber es gebe auch andere, wie die anhaltende Bildungsungerechtigkeit in Deutschland.
Der soziale Hintergrund eines Kindes habe seit Jahrzehnten einen signifikanten Einfluss auf seine schulischen Leistungen. Ein weiterer Faktor sei die Tatsache, dass Kinder in deutschen Grundschulen durchschnittlich nur um die 140 Minuten pro Woche mit Lesen oder Leseaktivitäten verbringen. Diese Zahl liege im Schnitt der EU- und OECD-Länder bei 200 Minuten, das ist wöchentlich eine Stunde mehr.
Alphabetisierungsprogramm läuft aus
Kinder, die als Grundschüler nicht gut lesen lernen, können dies in der weiterführenden Schule kaum noch aufholen. So werden auch sie zu gering literalisierten Erwachsenen. 2016 brachten Bund und Länder die AlphaDekade auf den Weg - ein großes Maßnahmenpaket zur Alphabetisierung und Grundbildung dieser Bevölkerungsgruppe. Doch in zwei Jahren läuft es aus. Dass es noch kein Nachfolgeprogramm gebe, hält die Bildungsforscherin Grotlüschen für "maximal unglücklich". Das Bundesministerium für Bildung und Forschung plane allerdings neue Projekte, so eine Sprecherin, und arbeite an Ideen für nachfolgende Maßnahmen.
Der Bedarf ist groß. Zwei Drittel der Menschen mit mangelnden Lesekenntnissen sind zwar berufstätig, haben aber weitaus weniger Zugang zu Weiterbildungen oder Digitalisierungsprozessen. Dabei, so führt Forscherin Grotlüschen aus, gehe es nicht um anspruchsvolle Weiterbildungen für eine neue Karrierestufe, sondern um Dinge wie Gabelstaplerscheine oder Gefahrgutlizenzen für Lkw-Fahrer. Auch Pflegefortbildungen und dergleichen könnten nicht stattfinden oder würden umgangen, sofern sie nicht verpflichtend seien. Denn viele davon würden Textarbeit und schriftliche Prüfungen erfordern.
Unternehmen bieten Bildungskurse an
Inzwischen bieten selbst Unternehmen und Organisationen wie die Volkshochschulen berufsspezifische Grundbildungskurse an, beispielsweise Schreiben und Lesen für Berufskraftfahrerinnen und -fahrer oder Pflegepersonal.
Auch in den Schulen führen viele Länder nun wirksamere, wissenschaftlich evaluierte Lese- und Förderprogramme ein. Denn es besteht Handlungsbedarf von der Grundschule bis ins Erwachsenenalter, um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Lesekrise zu mindern.