Ukrainische Armee im Kriegseinsatz Rekruten zwischen Angst und Pflichtgefühl
Russland greift die Ukraine weiter massiv an. Um dagegenhalten zu können, braucht die Ukraine dringend gut ausgebildete Soldaten an der Front. Deswegen wird im Land intensiv rekrutiert. Aber nicht jeder will eingezogen werden.
Es funktioniert ein bisschen wie eine Blitzer-App, die Autofahrer warnt. Nur dass "Kyiv Povistka" nicht vor Radarfallen warnt, sondern vor Soldaten. Jenen, die in der Stadt Wehrpflichtige ansprechen, deren Papiere verlangen und sie zur Musterung schicken.
"Kyiv Povistka" ist ein Kanal des Sozialen Netzwerks Telegram. Die Nutzer alarmieren sich hier gegenseitig: "Schevchenko Viertel. Metro Polytechnisches Institut, Nahe der Pizzeria Domino, dort wurde jemand von der Armee angehalten. Vielleicht Dokumenten-Prüfung", heißt es dort.
Ein anderer schreibt: "Sie waren neben dem Kindergarten in Troeshchyna, sie gingen dort in die Hinterhöfe, in Uniform und mit einer Mappe."
"Jeden Tag werden Menschen beerdigt"
Der Telegram-Kanal gibt eine Ahnung davon, wie zumindest unter einem Teil der ukrainischen Männer die Angst umgeht. Wie vorsichtig sie sich in der Stadt bewegen, um nicht in die Arme von Rekrutierern zu laufen.
Auch der 25 Jahre alte Sergiy hat Angst davor. Schon im Sommer sagte er uns, er habe nicht die Anlagen zum Krieger. "Jeden Tag werden Menschen beerdigt - nicht nur Dutzende, sondern Hunderte. Da verstehst du, dass du dein Leben aufs Spiel setzt. Jeder macht sich Sorgen, manche Leute bleiben sogar ganz zu Hause. Sie sind so paranoid, dass sie nicht auf die Straße gehen, nicht ins Kino, ins Theater oder auf öffentliche Plätze, wo sie die Einberufungsbefehle bekommen können", sagte Sergiy.
Seitdem sei die Angst nur noch größer geworden, erzählt Sergiy am Telefon. Man denke nur an die Kämpfe in Bachmut. Er möchte lieber kein Interview mehr geben.
Rund eine Million bei der Landesverteidigung
Schon vor gut einem Jahr hat die Ukraine die Mobilmachung ausgerufen. Seitdem darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land mehr verlassen - außer in Ausnahmefällen. Viele Ukrainer wollen das offenbar gar nicht: Sie haben sich freiwillig bei der Armee gemeldet. Dort werden sie trainiert und irgendwann in den Einsatz geschickt.
Aber die Freiwilligen allein reichen längst nicht mehr aus. Immerhin gibt es nicht nur die Armee, sagt Oleksiy Melnyk, Militärexperte bei der Denkfabrik Razumkow in Kiew. Zusammen mit Nationalgarde, Grenzschutz und Polizei komme die Ukraine auf rund eine Million Menschen, die bei der Landesverteidigung helfen müssen. Und doch spüre man: Die Ukraine braucht viel mehr. "Ein Freund von mir ist 57 Jahre alt und war früher mal Pilot. Vor einigen Wochen wurde er vom Militär gebeten, als Infanterieoffizier zu dienen", erzählt Melnyk.
Das sei nicht üblich und zeige, dass die Lage nicht so rosig ist, wie manche behaupten. Auch gebe es Berichte von Hunderten ukrainischen Männern, die versuchen würden, illegal das Land zu verlassen. "Ich denke aber, dass das nur ein kleiner Teil ist."
Aus Wochen wurden Monate an der Front
Viele in der Ukraine erleben, wie gerade mehr und mehr Freunde und Bekannte Einberufungsbriefe bekommen. In Kiew beschweren sich Hotelmanager leise darüber, dass ihnen das Personal abhanden kommt, weil die Männer reihenweise eingezogen würden.
Manche Wehrpflichtige versuchen zu begründen, warum sie nicht zum Militär müssen: mit Attesten oder Bescheinigungen des Arbeitgebers. Sie sehen die grauenhaften Bilder von der Front und bekommen mit, dass Soldaten über Monate an der Front bleiben müssen, ohne ausgewechselt zu werden.
Manche von ihnen hatten mit ein paar Wochen, vielleicht wenigen Monaten an der Front gerechnet. Teils ist ein Jahr daraus geworden. Ein Leben im Dauerfeuer, weit weg von den Familien.
Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete.
Maxim hatte gerade zehn Tage Heimurlaub. Bald geht es zurück in Richtung Saporischschja, an die südliche Front. Im Kommissariat in Kiew hat er sich schon zurückgemeldet. Er kämpft mit den Tränen, weil er seine Familie wieder verlassen muss. Außerdem werden die Kämpfe an der Front immer heftiger.
"Ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Angst. Aber ich habe mich auch schon daran gewöhnt. Ich mache mir mehr Sorgen um meine Familie", sagt Maxim. Sie würden versuchen, ihn jeden Tag anzurufen. Aber manchmal komme keine Verbindung zustande. "Ich mache mir vor allem Sorgen um Verwandte, die um mich weinen. Ich bin gekommen, es gab Tränen."
Motivation der Ukrainer noch immer hoch - trotz allem
Trotzdem würden sich viele Menschen nach wie vor freiwillig melden, sagt Militärexperte Melnyk. Die Motivation bei vielen Ukrainern und Ukrainerinnen sei immer noch hoch. Nachdem das Innenministerium gerade angekündigt hat, neue Sturmbataillone zu bilden, seien laut Melnyk rund 10.000 Bewerbungen eingegangen.
Auf Wolodymyr kann er immerhin zählen. Er kommt gerade aus dem Kommissariat, wo er sich beim Militär registriert hat. Wolodymyr ist Binnenflüchtling, er stammt aus der Stadt Mariupol, die von Russland besetzt wird. In Kiew arbeitet er als Toningenieur in einem Theater.
"Falls ich einberufen werde, gehe ich"
Dem Dienst an der Waffe ist er lange aus dem Weg gegangen. Und doch schlagen zwei Seelen in seiner Brust. Da ist die Angst vor dem Krieg, aber auch das Gefühl, seinen Teil beitragen zu müssen. "Vielleicht muss ich mich dem Krieg doch stellen und mich verteidigen", sagt Wolodymyr.
Denn wenn man immer auf der Flucht sei, werde es nie aufhören. Die Russen würden immer weiter-, weiter- und weiterkommen. "Es gibt keine andere Wahl und ich habe mich damit abgefunden. Ich habe Angst, als Freiwilliger an die Front zu gehen, aber falls ich einberufen werde, gehe ich."
"Die gegenwärtigen Soldaten reichen nicht aus"
Gut möglich, dass auch er bald Post von der Armee bekommt. Denn dieser Krieg wird noch dauern. Die Ukraine möchte die russischen Angreifer besiegen und braucht dafür nicht nur Panzer, sondern auch Personal. Menschen, die bereit sind, dafür zu sterben.
"Nein, die gegenwärtigen Soldaten reichen nicht aus, denn der Gegner drängt vorwärts", sagt Ihor Romanenko, Generalleutnant im Ruhestand. "Und wir reden gerade über die Gegenoffensive. Um diese zu starten, braucht man mehr Kräfte."
Deswegen müsse man daran erinnern, dass die Mobilmachung andauert. "Sie hat am 24. Februar 2022 angefangen und ist bis heute nicht beendet."